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Die Regelungen zur virtuellen Aufsichtsratssitzung - ein unzureichendes Instrument für die Praxis? (Kupfer/Nahrgang, ZIP 2021, 678)

Das Frühjahr des Jahres 2020 mit der COVID-19-Pandemie hat die Schwächen des deutschen Gesellschaftsrechts deutlich aufgezeigt. Die Digitalisierungsdefizite sind durch eine Hau-Ruck-Gesetzgebung nicht von heute auf morgen zu kompensieren. Dabei soll der Beitrag aber nicht die Regelungen des Gesetzentwurfs zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafrecht) in den Blick nehmen, sondern sich der virtuellen Aufsichtsratssitzung und Beschlussfassung widmen, die Gegenstand mehrerer Gesetzesinitiativen) waren.

I.  Einleitung

II.  Begriffsbestimmung und rechtstatsächlicher Befund

1.  Arten von Aufsichtsratssitzungen und Beschlussfassungen

2.  Rechtstatsächlicher Befund

III.  Die Zulässigkeit einer rein virtuellen Pflichtsitzung mit Beschlussfassung

1.  Normative Ausgangslage

1.1  § 108 Abs. 4 AktG

1.2  § 110 Abs. 3 AktG

1.3  Kritische Würdigung

1.3.1  Anknüpfung an den Wortlaut des § 110 Abs. 3 AktG und den Wertungen des TransPuG

1.3.2  Ableitung aus der Regelung des § 108 Abs. 4 AktG

1.3.3  Fehlen eindeutiger Regelungen zur Einberufung und Formalia

1.3.4  Fehlende Abstimmung mit § 108 Abs. 3 AktG

1.3.5  Wertungen des Gesetzes zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafrecht

2.  § 108 Abs. 4 AktG als ausreichendes Instrument der Beschlussfassung?

3.  Zwischenergebnis

IV.  Möglichkeiten der virtuellen Teilnahme einzelner Teilnehmer an Präsenzsitzungen

1.  Verhältnis von § 108 Abs. 4 und § 110 Abs. 3 AktG

2.  Die gemischte Sitzung und das Widerspruchsrecht nach § 108 Abs. 4 AktG

2.1  Wertung des § 110 Abs. 3 AktG

2.2  Wertung des § 108 Abs. 3 AktG

2.3  Zwischenergebnis

3.  Anforderungen an die Beschlussfassung und die Niederschrift nach § 107 Abs. 2 AktG

4.  Einschränkung der virtuellen Teilnahmemöglichkeit?

4.1  Verhältnis der Teilnehmer vor Ort und zugeschalteter Teilnehmer

4.2  Beschränkung auf „außergewöhnliche Umstände“

4.3  Kritische Würdigung dieser Beschränkungsmerkmale

5.  Ausschluss bestimmter Sitzungen?

V.  Fazit


I.  Einleitung

Die COVID-19-Pandemie zwingt den nationalen Gesetzgeber neue Wege im Gesellschaftsrecht einzuschlagen. Vor dem Hintergrund des Gesundheitsschutzes wurde die Mobilität und die Versammlungsmöglichkeit von Menschen beschränkt. Als Folge wird die Willensbildung bei juristischen Personen erheblich erschwert und sogar teilweise unmöglich. Dies betrifft vor allem das Institut der Präsenzsitzung der Gesellschafter bei der Aktiengesellschaft und der Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Das Recht des Aufsichtsrats kennt dagegen die Möglichkeit der virtuellen Teilnahme an Sitzungen seit fast 20 Jahren. Daher lohnt ein Blick auf diesen Problemkreis, der weiterhin Unklarheiten kennt. Paradigmatisch für die Unternehmenspraxis ist dabei die virtuelle Zuschaltung einzelner Aufsichtsratsmitglieder zu einer Präsenzsitzung. Virtuell meint für die Zwecke dieses Aufsatzes eine Teilnahme unter der Nutzung einer Telefon- oder Videokonferenz.

Dabei soll sich der Beitrag zunächst mit Fragestellungen einer rein virtuellen Pflichtsitzung i.S.v. § 110 Abs. 3 AktG und Beschlussfassung befassen, bei der überhaupt keine Präsenzteilnahme vorgesehen ist.) In der Literatur wird teilweise keine Unterscheidung zwischen einer rein virtuellen oder einer gemischten Sitzung getroffen.) Soweit die virtuelle Aufsichtsratssitzung in Form der Videokonferenz in Blick genommen wird, werden zumeist lediglich einzelne Problemkreise angeschnitten und festgestellt, dass eine solche zulässig sei.) Im Gegensatz dazu wird in der rechtsanwaltlichen Praxis weitgehend einstimmig vertreten, dass rein virtuelle Präsenzsitzungen unzulässig oder zumindest mit einer großen Rechtsunsicherheit verbunden seien.) Diesem Befund schließt sich der vorliegende Beitrag an.

Dabei kann die aufgeworfene Themenstellung nicht als rein theoretische Streitigkeit abgetan werden. So stellen die Regelungen zur Beschlussfassung wesentliche Verfahrensvorschriften dar, deren Verletzung einen schweren Verfahrensfehler zur Folge hat und damit zur Nichtigkeit des Beschlusses führt.) Ferner war ein maßgebliches Argument für die Einführung einer virtuellen Hauptversammlung, dass dadurch trotz Versammlungsverbots der Dividendenbeschluss gefasst werden kann, § 174 AktG. Allerdings ist hierfür im Vorfeld notwendig, dass in der Bilanzsitzung der Aufsichtsrat den Jahresabschluss prüft, der Abschlussprüfer einbezogen und schließlich der Jahresabschluss auch gebilligt wird, §§ 171 f. AktG. Auch andere Entscheidungen des Aufsichtsrats im Rahmen von zustimmungspflichtigen Geschäften oder Personalentscheidungen dulden häufig keinen Aufschub.

II.  Begriffsbestimmung und rechtstatsächlicher Befund

1.  Arten von Aufsichtsratssitzungen und Beschlussfassungen

Das gesetzliche Grundmodell stellt die Präsenzsitzung dar, bei der sich alle Aufsichtsratsmitglieder an einem Ort für einen Austausch und die Beschlussfassung treffen. Dies ergibt sich aus dem Sachzusammenhang der Regelungen von § 108 Abs. 1 und 3 AktG, da nach § 108 Abs. 3 Satz 1 AktG auch abwesende Mitglieder durch schriftliche Stimmabgabe an der Beschlussfassung in der Sitzung teilnehmen können.

Davon zu unterscheiden ist die Beschlussfassung außerhalb von Präsenzsitzungen. Die Zulässigkeit einer solchen Form der Beschlussfassung hat der Gesetzgeber grundsätzlich in § 108 Abs. 4 AktG anerkannt, wobei er den Mitgliedern ein abdingbares Widerspruchsrecht gegen solche Beschlussfassungen gewährt. Die Beschlussfassung außerhalb von Sitzungen umfasst z. B. das klassische Umlaufverfahren, bei dem die Aufsichtsratsmitglieder zeitlich nacheinander an einer schriftlichen Abstimmung mitwirken, ohne dass es ...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 07.04.2021 09:11
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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