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Die neue europäische Verbandsklage als Ende des Kapitalanlegermusterverfahrens? (Wambach/Dressel, ZIP 2021, 1149)

Kollektiver Rechtsschutz als Verbands- oder Sammelklage ist ein zentrales Thema der rechtspolitischen Reformdiskussion. Nachdem der deutsche Gesetzgeber – nicht zuletzt angestoßen durch den Dieselskandal – das Musterfeststellungsverfahren eingeführt und der europäische Gestzgeber eine europäische Verbandsklage verabschiedet hat, beleuchtet dieser Beitrag das Verhältnis zum Kapitalanlegermusterverfahren. Es drängt sich die Frage auf, ob dieses Verfahren in der künftigen Verbandsklage aufgehen kann oder eine fortdauernde Existenzberechtigung hat.

I.  Einleitung
II.  Regelungsgehalt der Verbandsklage
III.  Zwischenfazit zur europäischen Verbandsklage und der Kritik hieran
IV.  Das Kapitalanlegermusterverfahren

1.  Anwendungsbereich
2.  Verfahrensablauf
3.  Beteiligung der Anleger
V.  Fazit zum Kapitalanlegermusterverfahren im Vergleich zur Verbandsklage


I.  Einleitung

Das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union haben Ende November 2020 die RL EU 2020/1828 zur europäischen Verbandsklage verabschiedet, die bis Ende 2022 umzusetzen ist. Diese löst zugleich die schon seit längerem etablierte Unterlassungsklage ab. Ziel der RL ist die bessere Durchsetzung von Verbraucherrechten.

Dabei stellt sich die Frage, welche Auswirkungen die neue Verbandsklage für das bestehende Kapitalanlegermusterverfahren hat, das erst jüngst bis 2023 verlängert wurde. Auch hier besteht die Möglichkeit, in einem Massenverfahren Schadensersatzansprüche feststellen zu lassen. Worin die Vor- und Nachteile dieses Verfahrens liegen und ob es angesichts der Verbandsklage ganz oder teilweise ausgedient hat, ist Gegenstand dieses Beitrags. Zu diesem Zweck erfolgt zunächst die Darstellung der künftigen Verbandsklage. Sodann werden das Kapitalanlegermusterverfahren in seinen Grundzügen knapp dargelegt und die strukturellen Unterschiede zur Verbandsklage herausgearbeitet. Anschließend wird die Frage nach der Zukunft des Kapitalanlegermusterverfahrens aus Sicht der Verfasser beantwortet.

II.  Regelungsgehalt der Verbandsklage
Durch die RL werden Qualifizierte Einrichtungen ermächtigt, auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes Klagen gegen Unternehmen zu erheben. Dabei ist zwischen grenzüberschreitenden und innerstaatlichen Verbandsklagen zu unterscheiden.

Für grenzüberschreitende Verbandsklagen stellt Art. 4 Abs. 3 RL sechs Kriterien auf, die eine Einrichtung kumulativ erfüllen muss, um sich für eine Klage zu qualifizieren. Hierzu muss sie mindestens zwölf Monate öffentlich zum Schutz von Verbraucherinteressen tätig gewesen sein und darf keinen Erwerbszweck verfolgen. Sie muss ferner unabhängig sein. Eine Mindestzahl an Mitgliedern ist nicht erforderlich. Die Finanzierung der Einrichtung durch Dritte lässt Art. 4 Abs. 3 RL ausdrücklich zu. Die Einrichtung darf dabei aber nicht unter dem Einfluss von Personen stehen, die eigene wirtschaftliche Interessen verfolgen, und muss Verfahren vorsehen, um das zu verhindern. Wie dieser offenkundige Widerspruch aufgelöst werden kann, lässt die RL offen. Die Kriterien und deren Überwachung sollen missbräuchlichen Klagen vorbeugen. Demgegenüber können die Mitgliedstaaten bei innerstaatlichen Verbandsklagen autonom definieren, welche Qualifikationen die Einrichtung erfüllen muss. Die Definitionsmacht findet ihre Grenze nur in Art. 4 Abs. 4 RL. Danach müssen die Kriterien mit dem Ziel der RL übereinstimmen, um ein wirksames und effizientes Funktionieren der Verbandsklage zu gewährleisten. Die Anforderungen des Musterfeststellungsverfahrens an klagebefugte Einrichtungen sind ungleich schärfer formuliert. So sind beispielsweise gem. § 606 Abs. 1 ZPO nur Einrichtungen klagebefugt, die zehn Verbände oder 350 natürliche Personen als Mitglieder haben. Sie müssen mindestens vier Jahre als Verbraucherschutzorganisation eingetragen sein und die Drittfinanzierung durch Unternehmen ist auf 5 % begrenzt. Wenn der deutsche Gesetzgeber es bei dem Katalog des § 606 ZPO belässt, wird die Frage aufkommen, ob diese Hürden noch richtlinienkonform sind und dem Ziel des effektiven Verbraucherschutzes durch die Verbandsklage genügen. Diese Frage wird für die Rechtspraxis vor allem deshalb bedeutsam sein, weil die grenzüberschreitende Verbandsklage vermutlich eher die Ausnahme als die Regel sein wird. Denn die qualifizierten Einrichtungen verfolgen primär inländische Verbandsziele und werden sich kaum freiwillig auf das Terrain einer ausländischen Prozess- und Rechtsordnung begeben, um dort Verstöße gegen Verbraucherrechte zu verfolgen.

Der Anwendungsbereich der Verbandsklage ist in Anhang I der RL definiert und umfasst eine Vielzahl von Verbraucherschutzvorschriften aus den Bereichen Datenschutz, Finanzdienstleistungen, Telekommunikation und Reiseverkehr. Zusätzlich sieht die RL in Art. 9 vor, dass ...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 02.06.2021 11:29
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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