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Der Haftungsausfüllungstatbestand in „Dieselklagen“ (Grigoleit, ZIP 2021, 1993)

Die gerichtliche Aufarbeitung der „Dieselklagen“ hat bereits Anlass zu einer ganzen Reihe höchstrichterlicher Judikate gegeben. Der folgende Beitrag setzt die Möglichkeit einer Haftungsbegründung nach Maßgabe der Feststellungen des Grundsatzurteils vom 25.5.2020 (VI ZR 252/19, ZIP 2020, 1179) als gegeben voraus und konzentriert sich auf eine Analyse wesentlicher Aspekte des Haftungsausfüllungstatbestands, namentlich des ersatzfähigen Schadens und einer Spezifizierung des Anspruchsinhalts.

I.  Einleitung
II.  Schadensrechtliche Rahmenbedingungen

1.  Schadensbestimmung
1.1  BGH zum „Vertrag als Schaden“: Vorbehalt des Vermögensschadens bzw. der Unvernünftigkeit
1.2  Dogmatische Einordnung
1.2.1  Die Verlegung der schadensrechtlichen „Rückabwicklung“ in den Deliktsanspruch gegen die Nichtvertragspartei
1.2.2  Kriterium des Vermögensschadens
2.  „Rückabwicklung“ des Vertrags
2.1  „Rückabwicklung“ durch Zug-um-Zug-Ausgleich
2.2  Gewährung und Berechnung des Nutzungsersatzes
2.2.1  Nutzungsausgleich dem Grunde nach
2.2.2  Bemessung des Nutzungsausgleichs
2.2.2.1  Linear-kilometerbezogene Nutzungsberechnung
2.2.2.2  Unterschreitung des Marktwerts der Nutzungen – Verfehlung des Maßstabs der Wertminderung
2.2.2.3  Heranziehung des Wertverzehrs als maßgebliche Marktbewertung in der bisherigen BGH-Judikatur
2.2.2.4  Begründungsansätze für die linear-kilometerbezogene Nutzungsberechnung
2.2.2.5  Unterbewertung der Nutzungen als „Bemakelungsprämie“?
3.  Ausgleich des Minderwerts des Fahrzeugs – „negativer Vertragssaldo“
3.1  Nachweis eines günstigeren Vertragsschlusses und der Vorbehalt des § 251 BGB
3.2  Ausgleich des „negativen Vertragssaldos“
III.  Kaufpreiserstattung ohne „Fahrzeugrückgabe“ (Weiterveräußerung und ähnliche Konstellationen)
1.  Anerkannte Anforderungen der Naturalrestitution – Vorbehalt der „Möglichkeit“ zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung
2.  Alternative der Entschädigung in Geld nach § 251 BGB
3.  Naturalrestitution oder Entschädigung in Geld in der Konstellation „Vertrag als Schaden“ ohne „Entledigungsperspektive“
3.1  Keine Naturalrestitution des „Vertrags als Schaden“ ohne „Rückgabe“ des Fahrzeugs
3.2  Entschädigung in Geld gem. § 251 BGB als Ausgleichsalternative in Konstellationen ohne „Fahrzeugrückgabe“ – „negativer Vertragssaldo“
3.3  Gegenprobe: Systematische Rechtfertigung des Ausschlusses der Naturalrestitution
3.4  Argumentation des BGH im Weiterveräußerungs-Urteil
3.4.1  Gleichsetzung von Differenzhypothese und Schaden
3.4.2  Aspekt der Vorteilsausgleichung
3.4.3  Maßstab der letzten mündlichen Verhandlung – Fortsetzung des Fahrzeugwerts im marktgerechten Erlös
IV.  Leasing-Konstellationen
1.  Geltendmachung von Schadensersatz während der Leasingzeit
1.1  Aspekt der nur vorläufigen Risikoübernahme als Ausschlussgrund für „Vertrag als Schaden“
1.2  Besonderheit beim Nutzungsersatz: Mietrechtliche Maßgeblichkeit der Leasingzahlungen
2.  Geltendmachung von Schadensersatz nach Rückgabe im Rahmen des Leasingverhältnisses
V.  Darlehen mit verbrieftem Rückgaberecht
1.  Geltendmachung von Schadensersatz vor Eingreifen der Rückgabeoption – Aspekt der Vorläufigkeit der Risikotragung
2.  Geltendmachung von Schadensersatz nach Ausübung der Rückgabeoption
3.  Nicht-Ausübung der Option
3.1  Aufhebung der „Ungewolltheit“ – Beendigung der Schadensqualität des Vertrags
3.2  Rechtsgedanke des § 144 BGB bzw. Verbot des widersprüchlichen Verhaltens
VI.  Beweislast
VII.  Ergebnisse


I.  Einleitung

In seinem Grundsatzurteil vom 25. 5. 2020 (VI ZR 252/19 – nachfolgend: VW-Haftungsgrund-Urteil) hat der BGH die Möglichkeit einer deliktischen Haftung des Herstellers für eine unzulässige Abschalteinrichtung auf der Basis von § 826 BGB im Grundsatz bejaht. Gleichwohl verbleiben viele Folgefragen, die in den anschließenden Judikaten nach und nach abgearbeitet wurden und werden. Diese Folgefragen beziehen sich (zwar nicht nur, aber) auch auf den Haftungsausfüllungstatbestand, wenngleich der BGH zu diesem bereits im VW-Haftungsgrund-Urteil einige grundsätzliche Feststellungen getroffen hat, namentlich zu einer (in das Verhältnis zum Hersteller verlegten) „Rückabwicklung“ des Fahrzeugerwerbs. Weitere aktuelle höchstrichterliche Aussagen betreffen u. a. die Erstattung eines Minderwerts des Fahrzeugs (Urteil vom 6. 7. 2021 – VI ZR 40/20 – nachfolgend: Minderwert-Urteil) sowie die Auswirkungen einer zwischenzeitlichen Weiterveräußerung (Urteil vom 20. 7. 2021 – VI ZR 575/20 – nachfolgend: Weiterveräußerungs-Urteil).

Im Folgenden sollen zunächst theoretische Grundfragen der schadensrechtlichen Justierung beleuchtet werden (unter II). Sodann werden einige Sonderkonstellationen analysiert, nämlich zunächst Klagen, die auf eine Kaufpreiserstattung nach erfolgter Weiterveräußerung abzielen (unter III), Leasing-Fälle (unter IV) und schließlich Klagen, bei denen der Fahrzeugerwerb durch ein Darlehen mit einem sog. verbrieften Rückgaberecht unterlegt war (unter V). Abschließend werden noch Beweisfragen angesprochen (unter VI).

II.  Schadensrechtliche Rahmenbedingungen
Die bislang vom BGH getroffenen grundsätzlichen Feststellungen zum Haftungsausfüllungstatbestand betreffen die Behandlung des „Vertrags als Schaden“ (unter 1) und die (in das Verhältnis zum Hersteller verlegte) „Rückabwicklung“ des Fahrzeugerwerbs (unter 2). Darüber hinaus hat das höchste Gericht festgestellt, dass der Fahrzeugerwerber auch ohne „Rückabwicklung“ des Fahrzeugerwerbs einen Ausgleich des Minderwerts bzw. eines etwaigen negativen Vertragssaldos verlangen kann (unter 3).

1.  Schadensbestimmung
Eine zentrale Weichenstellung für die nähere Inhaltsbestimmung des Schadensausgleichs bilden die Feststellungen des BGH zum „Kaufvertrag als Schaden“, die im Folgenden zunächst skizziert (unter 1.1) und sodann dogmatisch gedeutet werden sollen (unter 1.2).

1.1  BGH zum „Vertrag als Schaden“: Vorbehalt des Vermögensschadens bzw. der Unvernünftigkeit
Im VW-Haftungsgrund-Urteil qualifiziert der BGH den Kaufvertrag über das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehene Fahrzeug als Schaden des Fahrzeugerwerbers und gründet den Ersatz auf § 249 BGB. Damit ordnet das Gericht den Inhalt des Ersatzes als Naturalrestitution ein. Es stellt die Naturalrestitution unter den Vorbehalt, dass der Vertrag als Vermögensschaden qualifiziert werden könne. Dies setze voraus, dass der Kaufvertrag aus der Perspektive des Erwerbers (subjektiv) „ungewollt“ und (objektiv) „unvernünftig“ sei. Auf die – als Ableitungsbasis vorrangige – „Unvernünftigkeit“ des Kaufvertrags schließt der BGH aus dem ex ante bestehenden abstrakten Risiko einer Betriebsuntersagung. Der Schadensersatz im Wege der Naturalrestitution ist nach Maßgabe des VW-Haftungsgrund-Urteils im Grundsatz darauf gerichtet, dass der Fahrzeugerwerber vom Hersteller Erstattung des Kaufpreises verlangen kann, Zug-um-Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs. Diese zentrale Justierung des Haftungsausfüllungstatbestands wird auch in anderen Judikaten übernommen.

Demgegenüber hat es der BGH im VW-Haftungsgrund-Urteil dahingestellt sein lassen, ob das Preis-/Leistungsverhältnis zu Lasten des Erwerbers gestört war. Allein die Bindung an den „ungewollten“ bzw. „unvernünftigen“ Vertrag gibt dem BGH damit Anlass, einen Schaden i. S. v. § 249 BGB als gegeben zu erachten. Eine Störung der Wertrelation der Leistungsansprüche wird auch in anderen Entscheidungen weder als notwendige Voraussetzung für die Naturalrestitution des „Vertrags als Schaden“ erachtet noch in concreto festgestellt. Wenn allerdings eine gestörte Wertrelation vorliegt, soll der Fahrzeugerwerber nach dem Minderwert-Urteil des BGH ...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 06.10.2021 12:22
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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