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Das Recht der Vorstandsmitglieder auf eine "Auszeit" und die Pflicht des Aufsichtsrats zur Vorsorge (Selter, ZIP 2021, 2418)

Die neuen Regelungen in § 84 Abs. 3 AktG n. F. gewähren Vorstandsmitgliedern in bestimmten Lebenssituationen ein Recht auf Widerruf ihrer Bestellung und Zusicherung der Wiederbestellung nach einer bestimmten Frist. Hierdurch soll ihnen eine „Auszeit“ vom Mandat ermöglicht werden. Denn mit vorübergehendem Amtsverlust, der auch im Handelsregister einzutragen ist, werden sie bis zu ihrer Wiederbestellung mit Ausnahme nachwirkender Treuepflichten von ihren Organpflichten entbunden und somit auch von Haftungsrisiken befreit. Ungeklärt ist, ob dieses Recht der Vorstandsmitglieder besondere Anforderungen an den Aufsichtsrat bei der Zusammensetzung des Vorstands und der Besetzung der Vorstandsposten oder zumindest bei der dortigen Aufgabenverteilung und im Hinblick auf die Kommunikation unter den Vorstandsmitgliedern stellt.

I.  Einführung
II.  Das Recht des Vorstandsmitglieds auf eine „Auszeit“

1.  Anwendungsbereich
2.  Das dreistufige System
2.1  Überblick
2.2  Mutterschutz
2.3  Elternzeit, Pflege und Krankheit von bis zu drei Monaten
2.4  Elternzeit, Pflege und Krankheit von mehr als drei Monaten
3.  Allgemeine Aspekte des Rechts auf „Auszeit“
3.1  Wettbewerbsverbot während der „Auszeit“
3.2  Schicksal des Anstellungsvertrags und Vergütung während der „Auszeit“
III.  Pflichten des Aufsichtsrats
1.  Ausgangspunkt und praktische Relevanz
2.  Gestaltungsoptionen
2.1  Bestellung weiterer Vorstandsmitglieder
2.2  Interimsmanagement durch Aufsichtsmitglieder und externe Spezialisten
2.3  Ressortaufteilung und Aufgabenzuweisung
IV.  Zusammenfassung


I.  Einführung

Mit abschließenden Änderungen auf Empfehlung seines Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat der Bundestag am 11.6.2021 das Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (FüPoG II) verabschiedet. In seiner Sitzung am 25.6.2021 hat der Bundesrat darauf verzichtet, den Vermittlungsausschuss anzurufen, und somit den Weg für das Inkrafttreten des Gesetzes freigemacht, was nach Verkündung am 11.8.2021 tags darauf auch geschehen ist.

Eine durch das FüPoG II bewirkte Veränderung findet sich in § 84 Abs. 3 AktG n. F., der auf die Initiative #StayOnBoard und die hiermit einhergehende juristische Auseinandersetzung zur Umsetzbarkeit der gesellschaftspolitischen Forderung de lege lata zurückgeht.

Hierin ist das Recht weiblicher Vorstandsmitglieder geregelt, für die Zeit des Mutterschutzes von allen (Sorgfalts-)Pflichten und Haftungsrisiken befreit zu werden. Konstruktiv soll dies mittels Widerrufs der Bestellung und Zusicherung späterer Wiederbestellung durch den Aufsichtsrat oder durch unmittelbare, aufschiebend befristete Wiederbestellung bewirkt werden. Aber nicht nur im Fall des Mutterschutzes sollen Vorstandsmitglieder dieses Recht haben, sondern auch während der Elternzeit und der Pflege eines Familienangehörigen sowie im Fall eigener Krankheit. Allerdings sieht das Gesetz nur für die Zeit des Mutterschutzes einen Anspruch vor, den der Aufsichtsrat zwingend erfüllen muss. In den anderen Fällen entscheidet das Überwachungsorgan nach Ermessen oder kann, sollte das Ersuchen des Vorstandsmitglieds sich lediglich auf einen Zeitraum von bis zu drei Monaten erstrecken, zumindest bei Vorliegen eines wichtigen Grundes das Ersuchen zurückweisen.

Nachfolgend werden die einzelnen Regelungen des § 84 Abs. 3 AktG n. F. dargestellt (II), bevor auf die Auswirkungen dieser Regelungen auf das Pflichtenprogramm des Aufsichtsrats bei der Zusammensetzung des Vorstands, der Besetzung der Vorstandsposten und vor allem im Zusammenhang mit der Ressortaufteilung und Aufgabenverteilung sowie der Kommunikation unter den Vorstandsmitgliedern einzugehen sein wird (III). Abschließend werden die wesentlichen Ergebnisse festgehalten (IV).

II.  Das Recht des Vorstandsmitglieds auf eine „Auszeit“

1.  Anwendungsbereich

Anders als bei vielen anderen Regelungen, die das Aktiengesetz zuletzt verändert und vor allem ergänzt haben, gilt § 84 Abs. 3 AktG n. F. nicht nur für börsennotierte Gesellschaften oder solche, deren Unternehmen von öffentlichem Interesse nach § 316a Satz 2 HGB sind, sondern für alle Aktiengesellschaften, deren Vorstand aus mindestens zwei Personen besteht. Gem. § 76 Abs. 2 Satz 1 und 2 AktG sind somit sämtliche Aktiengesellschaften von den neuen Regelungen betroffen, deren Grundkapital mehr als 3 Mio. € beträgt, es sei denn, deren Satzung bestimmt, dass der Vorstand aus lediglich einer Person besteht.

Das Recht auf eine „Auszeit“ wegen Mutterschutzes steht nur weiblichen Vorstandsmitgliedern zu. Die neuen Regelungen im Hinblick auf Elternzeit, Pflege eines Familienangehörigen und Krankheit gelten hingegen für sämtliche Vorstandsmitglieder.

§ 84 Abs. 3 AktG n. F. verwendet den Begriff Mutterschutz in Anlehnung an das Gesetz zum Schutz von Müttern bei der Arbeit, in der Ausbildung und im Studium (Mutterschutzgesetz – MuSchG). Gem. § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 MuSchG ist dies die Zeit von sechs (6) Wochen vor dem voraussichtlichen Tag der Entbindung, also dem von einem Arzt, einer Hebamme oder einem Entbindungspfleger errechneten Geburtstermin, sowie üblicherweise der Zeitraum bis zum Ablauf von acht (8) Wochen nach der Entbindung gem. § 3 Abs. 2 Satz 1 MuSchG. Dieser Zeitraum von insgesamt 14 Wochen verkürzt oder verlängert sich je nachdem, ob die Geburt vor oder nach dem voraussichtlichen Tag der Entbindung stattfindet, vgl. § 3 Abs. 1 Satz 4 MuSchG.

Der Begriff der Elternzeit orientiert sich an § 15 des Gesetzes zum Elterngeld und zur Elternzeit (Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz – BEEG), der Begriff der Pflege an den Regelungen in § 3 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 und Abs. 6 Satz 1 des Gesetzes über die Pflegezeit (Pflegezeitgesetz – PflegeZG). Wann eine Krankheit i.S.d. Gesetzes vorliegt, lässt sich den Gesetzesmaterialien nicht entnehmen. Insbesondere lassen sie offen, ob auch Verletzungen, beispielsweise nach Unfällen, hiermit gemeint sind.

2.  Das dreistufige System

2.1  Überblick

Abhängig von dem konkreten Lebenssachverhalt, also dem Grund für die Geltendmachung des Rechts auf Widerruf der Bestellung und Zusicherung späterer Wiederbestellung, besteht zugunsten des Vorstandsmitglieds ein unbedingt zu erfüllender Anspruch, ein Anspruch, dessen Erfüllung der Aufsichtsrat lediglich ...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 01.12.2021 11:45
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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