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Lieferkettengesetz, Europäisches Kartellrecht und die Folgen: Effiziente Missbrauchsbekämpfung oder nutzlose Gängelung gesetzestreuer Unternehmen? (Ekkenga/Erlemann, ZIP 2022, 49)

Obwohl offenkundig ist, dass die Programmatik einer marktstufenübergreifenden Compliance-Organisation nach dem neuen „Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz“ (LkSG) gewachsene und bislang rechtlich geschützte Marktordnungsstrukturen verändert, fehlt es bislang an Untersuchungen der Materie unter wettbewerbsrechtlichen Aspekten. Das soll mit diesem Beitrag nachgeholt werden. Dabei wird sich zeigen, dass sich die Rechtsidee einer Zwangsbeleihung von Privatunternehmen als stellvertretende Sachwalter zur Bewältigung staatlicher Überwachungsaufgaben innerhalb marktwirtschaftlicher Verteilungssysteme nicht mit befriedigenden Ergebnissen umsetzen lässt. Zugleich ergreifen die Autoren die Gelegenheit, auf eine Reihe konzeptioneller und textlicher Umsetzungsmängel hinzuweisen, deren Bereinigung die Wissenschaft voraussichtlich noch eine Weile beschäftigen wird.

I. Bisherige Entwicklungen – eine kritische Bestandsaufnahme
II. Berührungspunkte des LkSG mit Europäischem Kartellrecht – Versuch einer Standortbestimmung

1. Das Konzept: Marktstufenübergreifende Compliance im globalen Maßstab
2. Kartellrechtliche Relevanz einer marktstufenübergreifenden Compliance-Organisation
a. Kartellrechtsneutrale Verhaltenspflichten im Nachfragerwettbewerb
b. Kartellrechtsneutrale Folgen für den Anbieterwettbewerb
c. Kartellrechtsrelevante Verpflichtungen zu Lasten der Zulieferer
3. Wettbewerbsbeschränkendes Potential des LkSG (Überblick)
III. Wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen und Verhaltensabstimmungen nach Art. 101 Abs. 1 AEUV
1. Kooperative Elemente einer marktstufenübergreifenden Compliance-Organisation
a. Vertikale Kooperationen
b. Horizontale Kooperationen
2. Subordinative Elemente einer marktstufenübergreifenden Compliance-Organisation
a. Subordination auf vertraglicher Grundlage
b. Machthebel der sorgfaltsverpflichteten Unternehmen
c. Zur Einbeziehung mittelbarer Zulieferer
3. Exklusive Elemente einer marktstufenübergreifenden Compliance-Organisation
a. Systemcharakter einer selektiven und langfristigen Gestaltung der Beschaffungswege
b. Wirtschaftliche Ineffizienzen
c. Von der Subordination zur Konzentration?
4. Gruppenwettbewerb als Ausgleich für Einzelwettbewerb?
5. Förderung nachhaltiger Produktions- und Dienstleistungsbedingungen durch das LkSG?
a. Ineffizienzen auf der Nachfragerseite
b. Ineffizienzen auf der Angebotsseite
IV. Gruppenfreistellungen
V. Fazit


I. Bisherige Entwicklungen – eine kritische Bestandsaufnahme

Die Inpflichtnahme größerer Unternehmen für die Rechtstreue ihrer Zulieferer in globalen Lieferketten ist bekanntlich seit längerem en vogue. Die Privaten sollen richten, was die Staaten und Staatengemeinschaften unter Einsatz all ihrer hoheitlichen Befugnisse und supranationalen Regelungspotentiale nicht geschafft oder gewollt haben, nämlich die wirksame Bekämpfung schlimmster Menschenrechtsverletzungen und Umweltsünden in rechtsstaatlich unterentwickelten Ländern. Wie das statt mit obrigkeitlichen Mitteln mit privatwirtschaftlicher Unterstützung zu bewerkstelligen sein soll, bedarf noch vielfach der Klärung;  das gilt nicht nur, aber vor allem für den Rechtsverkehr mit Unternehmen aus übermächtigen Nationen, die – wie namentlich die Volksrepublik China – entsprechende Einwirkungsversuche mit aggressiven Abwehrreflexen zu beantworten pflegen.  Die EU-Parlamentarier fechten das nicht an; sie haben die EU-Kommission im März 2021 beauftragt, so bald als möglich ein Europäisches Regelwerk über globale Lieferketten ins Werk zu setzen. Die Kommission wird den Pressemeldungen voraussichtlich im ersten Halbjahr 2022 nachkommen. Dem deutschen Gesetzgeber dauerte auch das zu lang. Sein im Juni 2021 im nationalen Alleingang verabschiedetes „Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten“ (LkSG) sieht nunmehr für Großunternehmen mit Sitz oder einer Filiale im Inland die Verpflichtung vor, eine unternehmens- und marktstufenübergreifende Complianceorganisation zu errichten und zu unterhalten.  Ähnliche, wenngleich weniger umfassend angelegte Regelwerke gab es schon zuvor in Frankreich und den Niederlanden.

Der Zivilrechtler gerät ins Staunen, und der Kartellrechtler wundert sich: Die freiheitlich-soziale Marktordnung, geprägt durch das Vorstellungsbild autonom wirtschaftender Anbieter und Nachfrager, soll in weiten Teilen drastisch beschnitten, wenn nicht abgeschafft werden. Die Kauf , Werklieferungs- oder Dienstleistungsverträge mit den Leistungsanbietern werden nunmehr flankiert von gesetzlich geprägten Prinzipal-Agent-Beziehungen, in denen die Nachfrager nicht nur Vergütungsleistungen erbringen, sondern im wahrsten Sinne des Wortes übergriffig werden, indem sie sich gegenüber den Anbietern polizeiliche Funktionen einer ökologischen und humanitären Gefahrenabwehr zueignen. Das ist in dieser Radikalität neu – ungeachtet der Tatsache, dass gewisse Bestrebungen, den Wertschöpfungsprozess auf der vorgelagerten Marktstufe im Rahmen vertraglicher Netzwerke zu beeinflussen, auch bisher schon verkehrsüblich waren.  Wenn nämlich SCM (Supply Chain Management) – Systeme gleichgeordneter Unternehmen de jure in hierarchisch gegliederte Organisationen mit dem Endproduzenten an der Spitze transformiert werden, bleibt das nicht ohne Konsequenzen für die Marktordnung. Es muss früher oder später dazu führen, dass die Kanten der Marktstufen allmählich einschmelzen und der Konzentrationsgrad im Wettbewerb entsprechend zunimmt. Ein naheliegender Gedanke, dem der deutsche Gesetzgeber indes ausweislich der Materialien keinerlei Beachtung geschenkt hat.

Überhaupt scheinen, wie eine Sichtung der bereits zuvor kursierenden Literaturmeinungen zur Etablierung marktstufenübergreifender Überwachungspflichten kraft Deliktsrechts ergibt, das Gespür für die rechtlich gesicherten Marktordnungsstrukturen im Allgemeinen und der Respekt vor dem Kartellrecht im Besonderen schon seit einiger Zeit weitgehend in den Hintergrund getreten zu sein. So behaupten besonders engagierte Verfechter einer privatwirtschaftlichen Lieferkettenkontrolle kurzerhand, das internationale Regulierungsniveau in Angelegenheiten unternehmerischer Verantwortung für die Einhaltung sozialer und ökologischer Standards (Corporate Social Responsibility; CSR) sei unbefriedigend, die angeblich entstandene Lücke sei durch das private Haftungsrecht auszufüllen.  Infolgedessen – so die hier wörtlich wiederzugebende Agenda – „konstruiert“ man aus der deliktischen Verkehrssicherungspflicht die „Sorgfaltspflicht..., Zuliefergesellschaften zu überprüfen und zu kontrollieren“.  Letztere werden zugleich explizit auf eine Stufe gestellt mit den untergeordneten Verbundmitgliedern eines Konzerns, die nun allerdings gerade nicht „selbständig“ agieren und schon deshalb mit den marktlich getrennten Kontrahenten einer Austauschbeziehung kaum zu vergleichen sind.  Entsprechend wirtschaftsfern und diffus sind die vorgeschlagenen Kriterien für die personelle Zuordnung einzelner Schutzpflichten: Compliance-Aufgaben will man den einzelnen Akteuren nicht nach Marktstufen getrennt, sondern je nach „Sphäre des Zulieferers“ oder seines Vertragspartners auferlegen.

Solche Reform- und Diskussionsansätze appellieren an ein Gerechtigkeitsempfinden, das angesichts der z.T. haarsträubenden Missstände in manchen globalen Lieferketten spontan einleuchten mag. Sie bergen aber Gefahren, die sich – das soll dieser Beitrag zeigen – nicht nur zum Nachteil der Verbraucher, sondern gerade auch zum Nachteil sonstiger Gemeinwohlinteressen einschließlich humanitärer und ökologischer Belange auswirken können. Um diese These zu untermauern, bedarf es zunächst einer genaueren Beschreibung derjenigen Reibungsflächen, die das Verhältnis der Lieferkettenregulierung zum Kartellrecht kennzeichnen (dazu unter II). Alsdann gilt es, den Spielraum bei der Ausgestaltung einer marktstufenübergreifenden Compliance-Organisation unter dem Regime des Europäischen Kartellverbots nach Art. 101 Abs. 1 AEUV näher auszuleuchten (dazu unter III, IV). Das Fazit unter V wird – soviel ist vorwegzunehmen – wenig schmeichelhaft für den deutschen Gesetzgeber ausfallen und nebenbei offenbaren, dass die Theorie von den marktstufenübergreifenden Verkehrssicherungspflichten nicht nur ökonomisch, sondern auch (kartell-)rechtlich auf Sand gebaut ist.

II. Berührungspunkte des LkSG mit Europäischem Kartellrecht – Versuch einer Standortbestimmung

1. Das Konzept: Marktstufenübergreifende Compliance im globalen Maßstab

Das LkSG ist bisher eine nationale Erscheinung. Eine europäische Regelung existiert noch nicht, allerdings will die EU-Kommission, wie eingangs erwähnt, bis Jahresende einen („verbesserten“, soll heißen erheblich verschärften) Entwurf für eine Europäische Reglementierung globaler Lieferketten vorlegen.  Solange die Schwebelage andauert, sind jedenfalls mögliche Konflikte mit der europäischen Rechtsordnung im Blick zu behalten.  Das gilt nicht nur, aber vor allem für das Europäische Kartellrecht, da Lieferketten von Großunternehmen vielfach global angelegt sind, so dass...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.01.2022 09:39
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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