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Aus der ZIP

ESG-Geschäftsleitungspflichten - Unternehmenstransformation zur Klimaneutralität (Weller, Fischer, ZIP 2022, 2253)

Der nachfolgende Beitrag diskutiert die Auswirkungen bereits verabschiedeter oder geplanter gesellschaftsrechtlicher EU-Regelwerke zu den Themen ESG bzw. Nachhaltigkeit für Vorstand und GmbH-Geschäftsführung. Wie zu zeigen sein wird, zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab: Während die Geschäftsleitungen bisher frei darin waren, ESG-Themen bei ihren unternehmerischen Entscheidungen zu berücksichtigen, werden sie künftig gehalten sein, ESG-Belange mit justitiablem Gewicht in die Entscheidungsfindungsprozesse mit einzubeziehen.

I. Einführung
1. These: ESG-Belange als Bestandteil der Leitungspflicht
2. Gang der Untersuchung zur Begründung der These
3. Themenbegrenzung
II. Der Aufstieg von „ESG“ zum Leitthema
1. Vom Shareholder Value- zum Stakeholder-Approach
2. Von Corporate Social Responsibility (CSR) zu Environment Social Governance (ESG)
III. Klimaneutralität als materielle Zielvorgabe
1. Klimaneutralität als Zielvorgabe im internationalen und nationalen Klimaschutzrecht
2. Klimaneutralität als materielle Zielvorgabe im Gesellschaftsrecht?
IV. ESG-Pflichten der Gesellschaft
1. ESG-Berichtspflichten
2. ESG-Sorgfaltspflichten (Corporate Sustainability Due Diligence-Richtlinienentwurf 2022)
V. ESG (auch) als Pflicht der Geschäftsleitung?
1. Pflichten der Geschäftsleitung
a) Leitungspflicht (§ 76 AktG)
b) Legalitätspflicht (§§ 76, 93 AktG)
c) Sorgfaltspflicht (§ 93 Abs. 1 AktG)
d) Organisationspflicht (§ 93 Abs. 1 AktG)
2. Legalitätspflicht als Transmissionsriemen für die ESG-Compliance
3. Ausstrahlung von ESG auf weitere Geschäftsleitungspflichten?
VI. ESG-Leitungspflicht (§ 76 AktG)
1. Status quo: Freies Leitungsermessen
2. Ermessensreduktion durch Materialisierung der Leitungspflicht
a) Materialisierungstendenzen
b) Unternehmenstransformation zur Klimaneutralität
3. Rechtsnatur der ESG-Leitungspflicht
a) Leitungs- vs. Sorgfaltspflicht
b) Erfolgs- vs. Bemühenspflicht
aa) obligations de résultat und obligations de moyens
bb) ESG-Leitungspflicht als Bemühenspflicht
4. Inhalt der ESG-Leitungspflicht
a) Prozedurale oder ergebnisbezogene Berücksichtigung von ESG-Parametern?
b) Abwägungsparameter
aa) ESG-Ziele
bb) Verhältnismäßigkeitsprüfung (vgl. Art. 3 q CSDD-Richtlinienentwurf)
c) Rechtfertigungsparameter
aa) Substitutionsunmöglichkeit
bb) Kollidierende Rechtsgüter
cc) ESG-Zielkonflikte
d) Kompensationsparameter
aa) Einbeziehung der Wertschöpfungskette und des Produktlebenszyklus
bb) Kompensation einer klimaschädlichen Entscheidung
5. Durchsetzung der ESG-Leitungspflicht
a) Klagbarkeit?
b) Koppelung der Geschäftsleitungsvergütung an ESG-Erfolge
c) Nachhaltigkeitsvorbehalt bei der Business Judgment Rule (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG)
d) Schadensersatz
aa) § 93 Abs. 2 AktG, § 43 Abs. 2 GmbHG als Anspruchsgrundlage
bb) Ersatzfähige Schadensposten
VII. ESG-Organisationspflichten
1. Organisationspflichten der Geschäftsleitung
2. ESG-Organisation der Unternehmensgovernance
a) Vorstand: Chief Climate Officer
b) Aufsichtsrat: Klimaexpertise (§ 105 Abs. 5 AktG) und Nachhaltigkeitsausschuss
c) Konsultation der Hauptversammlung (Say on ESG)
VIII. Zusammenfassung in Thesenform


I. Einführung

Environment Social Governance (ESG) ist im Begriff, zu den Leitthemen der 2020er Jahre aufzusteigen. Die diesbezügliche Entwicklung verläuft so rasant und tiefgreifend, dass sie bereits mit einem „Tsunami“ verglichen wird. Gerade in Deutschland kommt der Wandel mit Wucht: Hier werden Nachhaltigkeitsstrategien bislang eher als Feigenblatt und Marketinginstrument behandelt. Eine Studie der Managementconsultingfirma Russell Reynolds ergab jüngst, dass lediglich 25 % der befragten Unternehmen über eine belastbare Nachhaltigkeitsstrategie verfügten; nur 15 % der Mitarbeitenden attestierten der Vorstandsebene einen persönlichen Einsatz für ESG-Belange.

1. These: ESG-Belange als Bestandteil der Leitungspflicht
Im Folgenden soll zu begründen versucht werden, dass sich die Verfolgung von ESG-Belangen zum Bestandteil der Leitungspflicht der Geschäftsführung entwickeln wird. Eine solche „ESG-Leitungspflicht“ ist nichts anderes als eine „Revolution“ im Gesellschaftsrecht. Das bislang nach § 76 AktG freie Leitungsermessen des Vorstands wird inhaltlich reduziert: Der Vorstand wird das Unternehmen künftig nicht nur zu leiten, sondern es dabei, neben der Verwirklichung anderer ESG-Belange, auch klimaneutral zu transformieren haben.

2. Gang der Untersuchung zur Begründung der These
Im Folgenden soll zunächst in Erinnerung gerufen werden, wie ESG inzwischen zum Leitthema emporgestiegen ist (unter II). Eines der materiellen Kernziele von ESG ist die Kompatibilität der Wirtschaft mit dem Pariser Klimaabkommen, also letztlich die Transformation der Unternehmenslandschaft in klimaneutrale Gesellschaften (unter III). Um die Klimaneutralität den Gesellschaften als Ziel aufzuerlegen, soll aus Sicht der EU neben öffentlich-rechtlichen Vorgaben auch das Gesellschaftsrecht aktiviert werden, das mit einer größeren Hebelwirkung aufgrund der Vielzahl an privaten Akteuren einhergeht. Aus gesellschaftsrechtlicher Perspektive verdichten sich die Pflichten, welche die Unternehmen auf ESG trimmen sollen, zunehmend. Neben Berichtspflichten („nichtfinanzielle Erklärung“, §§ 289b ff. HGB) wird es ab dem 1.1.2023 für Großunternehmen und weite Teile des Mittelstandes Sorgfaltspflichten in der Lieferkette geben (§ 3 LkSG), die tief in die Unternehmens- und Konzernorganisation eingreifen. Zudem bereitet die EU-Kommission eine Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDD-Richtlinie) vor, welche die Unternehmen nach Art. 15 zur Transformation ihres Geschäftsmodells hin zu Klimaneutralität anhält (unter IV). Aus Sicht der Geschäftsleitung stellt sich die brisante Frage, ob und inwiefern diese unternehmensbezogenen ESG-Pflichten auch auf das persönliche Pflichtengefüge der Leitungsorgane ausstrahlen. Allgemein werden für Vorstand und Geschäftsführung die Leitungspflicht (§ 76 AktG), die Sorgfaltspflicht (§ 93 Abs. 1 AktG), die Legalitätspflicht, die Organisationspflicht und die organschaftlichen Treuepflichten unterschieden. Anerkannt ist, dass unternehmensbezogene Pflichten über den Transmissionsriemen der Legalitätspflicht auch in Pflichten der Geschäftsleitung transponiert werden können (unter V). Indes: Eine fundamentale Neuerung zeichnet sich bei ESG bereits ab. Bisher wird die Leitungspflicht diskretionär durch den Vorstand ausgefüllt – er hat nach § 76 AktG ein freies Leitungsermessen; er entscheidet ohne heteronome Vorgaben, wie er den statutarischen Unternehmensgegenstand erwerbswirtschaftlich ausfüllt, d.h. welche Geschäftspolitik er einschlägt. Die Geschäftsleitung kann dabei auch ESG-Belange verfolgen, sie muss es aber nicht. So kann etwa die Geschäftsleitung der Deutschen Bahn entscheiden, mit grünem Strom zu fahren (und damit zu werben), sie muss es aber nicht. Diese Freiheit wird nun eingeschränkt: Durch den „ESG-Tsunami“ wird die – bisher an keine inhaltlichen Vorgaben gekoppelte – Leitungspflicht künftig materiell aufgeladen. Das bislang freie Geschäftsleitungsermessen wird partiell reduziert, indem Geschäftsleitungsentscheidungen fortan unter den Vorbehalt der ESG- und speziell der Klimakompatibilität gestellt werden. War der Vorstand bisher frei darin, (auch) ESG-Belange bei der Unternehmensleitung zu berücksichtigen, hat er diese nunmehr zu beachten. Anders gewendet: Aus einem diskretionären „Kann“ wird ein obligatorisches „Muss“. Freilich gibt es zahlreiche Ausnahmen, die im Folgenden ebenfalls diskutiert werden sollen (unter VI). Diese materiell aufgeladene ESG-Leitungspflicht hat auch Auswirkungen auf die Governance und Organisation der Aktiengesellschaft, insofern bringt sie gewisse ESG-Organisationspflichten hervor (unter VII).

3. Themenbegrenzung
Im Konzern führt ESG im Anwendungsbereich des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes (LkSG) sogar zu einer ESG-Konzernleitungspflicht des Vorstands der Konzernobergesellschaft gegenüber Konzerngesellschaften, auf die ein bestimmender Einfluss ausgeübt wird (vgl. § 2 Abs. 6 Satz 3 LkSG), in der Lieferkette zu ESG-Sicherstellungspflichten gegenüber den unmittelbaren und mittelbaren Zulieferern (§ 6 Abs. 4 und § 9 LkSG). Diese – für sich genommen jeweils größeren – Problemkomplexe bleiben einer gesonderten Untersuchung vorbehalten.

II. Der Aufstieg von „ESG“ zum Leitthema

1. Vom Shareholder Value- zum Stakeholder-Approach

Die 1970er bis 90er Jahre standen im Zeichen des von der Chicago School geprägten shareholder value-approach. Erst seit der Jahrtausendwende wird im Rahmen der Leitungsaufgabe des Vorstands gem. § 76 Abs. 1 AktG vermehrt eine interessenpluralistische Ausrichtung des Unternehmensziels unter dem Stichwort des stakeholder approach erwogen. Die Diskussion mündete im Konzept der Corporate Social Responsibility (CSR). Diese fand mit der CSR-Richtlinie (2014) zunächst Einzug in die nichtfinanzielle Berichterstattung großer börsennotierter Unternehmen. Wie der Fokus auf Social erhellt, stand die Einhaltung von Menschenrechten im Vordergrund (vgl. § 289c Abs. 2 Nr. 2 bis 4 HGB), Umweltschutz und geschäftsethische Belange waren im „Social“ gleichsam mitenthalten (vgl. § 289c Abs. 2 Nr. 1 und 5 HGB).

2. Von Corporate Social Responsibility (CSR) zu Environment Social Governance (ESG)
Mit dem Pariser Klimaabkommen (2015), sich häufenden Extremwetterereignissen und der Fridays-for-Future-Bewegung ist ein noch prononcierterer Wandel eingetreten: Die Umwelt und das Klima sind zu einem Großthema (auch des Gesellschaftsrechts) avanciert. Die diesbezügliche Aufwertung der Klimabelange in der Unternehmenspraxis ist terminologisch mit dem Begriff Environment Social Governance (ESG) nachvollzogen worden: Environment steht jetzt explizit gleichberechtigt neben den Social-Belangen.

Das Gesellschaftsrecht wird seit einigen Jahren zunehmend mit in Dienst genommen, um gesellschaftspolitische Anliegen zu verwirklichen, namentlich den Klimawandel zu bekämpfen („The Law of the Corporation as Environmental Law“ ). Die Einbeziehung von öffentlichen Interessen und namentlich ESG in gesellschaftsinterne Vorgänge kann als zunehmende „politicization of the corporation“ verstanden werden. Mit dieser Entwicklung findet das Aktienrecht bemerkenswerter Weise zu seinen historischen Ursprüngen zurück. Die Gründung von Aktiengesellschaften erfolgte in Deutschland bis zur ersten Aktienrechtsnovelle 1870 nach dem Konzessionssystem: Die Unternehmensgründung war damals abhängig von einer staatlichen Genehmigung, die zunächst nur erteilt wurde, wenn sich die Gesellschaft Gemeinwohlbelangen verpflichtete. „Die Rechte der Corporationen ...[kamen] nur solchen vom Staate genehmigten Gesellschaften zu, die sich zu einem fortdauernden gemeinnützigen Zwecke verbunden haben.“ Die Vergangenheit holt die Zukunft wieder ein, so scheint es.

III. Klimaneutralität als materielle Zielvorgabe
Der gesellschaftspolitisch bedeutsamste Aspekt der Dimension Environment in ESG ist der Kampf gegen die anthropogene globale Erwärmung, den wir im Folgenden exemplarisch herausgreifen. Über das „Ob“ der Notwendigkeit klimaneutralen Wirtschaftens besteht inzwischen politisch weitgehender Konsens. Dieser Konsens hat seinen Ausdruck in verschiedenen programmatischen Rechtsinstrumenten gefunden, zuvorderst dem Pariser Klimaabkommen, welches 195 Staaten ratifiziert haben. Es stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, inwiefern sich dieses Klimaziel zu einer justiziablen Zielvorgabe auch für private Unternehmen...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 29.11.2022 17:41
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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