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Die Insiderinformation im Spannungsverhältnis von Ad-hoc-Publizität und Insiderhandelsverbot - Eine Kritik an der Normstruktur der MAR und den Reformplänen im Rahmen eines EU Listing Acts (Misterek, ZIP 2023, 400)

Ein Kernproblem des einstufigen Insiderrechts liegt darin, dass die Zwecke von Insiderhandelsverbot und Ad-hoc-Publizität bei der Auslegung des Begriffs der Insiderinformation mitunter in Konflikt stehen. Nun hat die EU-Kommission im Rahmen des geplanten Listing Acts wesentliche Änderungen der MAR vorgeschlagen. Insbesondere sollen Zwischenschritte von der Ad-hoc-Publizität ausgenommen werden. Dieser Beitrag untersucht, inwieweit das die normstrukturellen Probleme bei irrationalen Kursreaktionen und gestreckten Sachverhalten löst, und zeigt Alternativen auf.

I. Einleitung
II. Probleme der derzeitigen Regelung
sstruktur
1. Regelungshistorischer Hintergrund
2. Zielkonflikte
2.1 Irrationale Kursreaktionen
2.2 Zwischenschritte bei gestreckten Sachverhalten
2.3 Rechtsunsicherheit und Compliance-Kosten
III. Lösungsmöglichkeiten im Rahmen einer MAR-Novelle
1. Änderung der Definition der Insiderinformation
1.1 Kommissionsvorschlag
1.2 Fundamentalwertbezug
1.3 Langfristige Relevanz
2. Keine Ad-hoc-Publizität bei Zwischenschritten
2.1 Kommissionsvorschlag
2.2 Neue Rechtsunsicherheit
2.2.1 Wahrscheinlichkeitsschwelle aus Art. 7 Abs. 2 Satz 1 MAR
2.2.2 Definition des Zwischenschritts
2.3 Veröffentlichungspflicht bei nicht gewährleisteter Vertraulichkeit
2.4 Bewertung und Alternativen
3. Weitere Änderungsvorschläge
3.1 Verordnungsrang für ESMA-Fallgruppen
3.2 Frühere Einbindung von Aufsichtsbehörden
3.3 Delegierter Rechtsakt mit publizitätspflichtigen Informationen
IV. Zusammenfassende Thesen


I. Einleitung

Die 2014 erlassene Marktmissbrauchsverordnung (MAR) wurde bisher nur marginal geändert. Im Rahmen eines geplanten Listing Acts hat die EU-Kommission nun nach einer ausführlichen Konsultation von Marktteilnehmern und Aufsichtsbehörden einen umfangreichen Reformvorschlag unterbreitet. Dieser sieht Änderungen im Kernbereich des Insiderrechts bei der Definition der Insiderinformation (Art. 7 MAR) und den Voraussetzungen der Ad-hoc-Publizität (Art. 17 MAR) vor. Ihr Ziel ist es, regulatorische Hürden beim Marktzugang von Emittenten zu reduzieren, ohne Anlegerschutz und Marktintegrität über Gebühr zu beschneiden. Dabei sollen die praktischen Erfahrungen der letzten Jahre in eine effizientere und verhältnismäßigere Normgestaltung einfließen. Dieser Beitrag zieht deshalb im ersten Teil Bilanz, welche zentralen normstrukturellen Probleme sich beim Zusammenspiel von Art. 7 und 17 MAR gezeigt haben. Im zweiten Teil soll er aufzeigen, welche Möglichkeiten der europäische Gesetzgeber hat, diese Probleme zu überwinden und inwieweit dies mit dem aktuellen Kommissionsvorschlag gelingt.

II. Probleme der derzeitigen Regelungsstruktur

1. Regelungshistorischer Hintergrund

Um die normstrukturellen Probleme des europäischen Insiderrechts zu erschließen, muss man seine Entstehungsgeschichte nachzeichnen. Nachdem die Insiderregulierung lange Zeit den nationalen Rechtsordnungen und in Deutschland der Selbstregulierung der Börsen überlassen war, erfolgten erste europäische Vorgaben durch die Börsenzulassungs-RL von 1979. Darin war für börsennotierte Aktienemittenten eine Pflicht zur Ad-hoc-Veröffentlichung von „erheblichen Tatsachen“ vorgesehen, die der breiten Öffentlichkeit nicht bekannt waren und aufgrund „ihrer Auswirkung auf ihre Vermögens- und Finanzlage oder auf den allgemeinen Geschäftsverlauf zu einer beträchtlichen Änderung der Kurse ihrer Aktien“ führen konnten. In Deutschland war die Pflicht zunächst in § 44a BörsG a.F. umgesetzt und führte mit insgesamt sechs abgegebenen Meldungen bloß ein Schattendasein.

Die Trias der Insiderverbote (Insiderhandel, Empfehlung, Weitergabe) entstand dagegen erst zehn Jahre später mit der Insider-RL von 1989. Im Zuge ihrer Umsetzung in § 14 WpHG a.F. stellte der deutsche Gesetzgeber bereits einen systematischen Zusammenhang mit der Ad-hoc-Veröffentlichungspflicht her, indem er § 44a BörsG a.F. in § 15 WpHG a.F. überführte. Die Tatbestände waren aber weiterhin vollständig getrennt: § 14 WpHG a.F. bezog sich auf „Insidertatsachen“ i.S.v. § 13 WpHG a.F. und § 15 WpHG a.F. auf „kursbeeinflussende Tatsachen“. Das änderte sich erst als die MAD 2003 die Insider-RL ablöste, den Begriff der „Insiderinformation“ an die Stelle der „Insidertatsache“ setzte und zur gemeinsamen Grundlage sowohl der Ad-hoc-Publizität als auch der Insiderverbote machte. Nach dem sog. Einheitsprinzip (auch einstufiges Modell genannt) sollten alle insiderrechtlichen Ge- und Verbote vom selben Informationstatbestand ausgehen, obwohl sie getrennt entwickelt wurden und teilweise unterschiedliche Ziele verfolgen.

Aufgrund der so angelegten Auslegungskonflikte wurde das Einheitsprinzip im Gesetzgebungsverfahren zur heute geltenden MAR sehr schnell wieder infrage gestellt. Der Kommissionsentwurf von 2011 differenzierte in diesem Sinne – angelehnt an das englische RINGA-Prinzip – zwischen einem enger gefassten Begriff der Insiderinformation für die Ad-hoc-Publizität und einem weiter gefassten für die Verbotstatbestände (bekannt geworden als „Insiderinformation light“). Dahinter stand die Befürchtung, ein einheitlicher Begriff könnte von der Rechtsprechung im Lichte der Ad-hoc-Publizität zu eng ausgelegt werden und dadurch den Anwendungsbereich des Insiderhandelsverbots übermäßig verkürzen. Diese Sorge erübrigte sich, als der EuGH im Geltl-Urteil Zwischenschritte gestreckter Vorgänge als Insiderinformationen einordnete und sich damit zu einem sehr weiten Verständnis bekannte. Im finalen Verordnungstext kehrte der Gesetzgeber deshalb zum Einheitsprinzip zurück und beließ es dabei, dem Inhalt des Geltl-Urteils in Art. 7 Abs. 2 und 3 MAR Gesetzeskraft einzuräumen. Die heutige Fassung der MAR steht folglich unter der Bedingung, dass eine teleologische Auslegung der Insiderinformation aus der Perspektive der erst nachträglich an sie geknüpften Ad-hoc-Publizität nicht die Insiderverbote aufweichen darf. Dagegen scheint den Gesetzgeber kaum die umgekehrte Frage beschäftigt zu haben, inwieweit dadurch die Ziele der Ad-hoc-Publizität sowie die Interessen ihrer Verpflichteten „geopfert“ werden müssen und dürfen.

2. Zielkonflikte
Das Bekenntnis des Gesetzgebers zum Einheitsprinzip und sein Wille, im Zweifel den Zweck der Insiderverbote über den der Ad-hoc-Publizität zu stellen, werfen Fragen zum teleologischen Verhältnis von Art. 8 und 17 MAR auf. Zuletzt konstatierte die ESMA: „[...] it might be argued that in certain situations inside information is mature enough to trigger a prohibition of market abuse but insufficiently mature to be disclosed to the public“. Die Aufsichtsbehörde erkennt bei der Auslegung des Begriffs der Insiderinformation also einen Zielkonflikt der Tatbestände, die auf den Begriff Bezug nehmen. Denn obwohl Art. 8 und 17 MAR beide dem Schutz der Marktintegrität dienen, sind sie auf verschiedene Aspekte derselben gerichtet: Das Insiderhandelsverbot (Art. 14 lit. a i.V.m. Art. 8 Abs. 1 MAR) soll die Ausnutzung von informationellen Sondervorteilen unterbinden und dadurch die Gleichberechtigung sowie das darauf beruhende Vertrauen der Marktteilnehmer sicherstellen. Der Ad-hoc-Publizität (Art. 17 MAR) kommt dieselbe Stoßrichtung zu, soweit sie Insiderhandel präventiv durch die Herstellung informationeller Chancengleichheit verhindert. Daneben soll sie aber auch die Informationseffizienz (durch informationsgerechtere Preise) und die operationale Funktionalität (durch geringere Informationsbeschaffungskosten) erhöhen. Wie diese Ziele mit denen des Insiderhandelsverbots in Konflikt kommen können, zeigen folgende – praktisch höchst relevante – Problemfälle:

2.1 Irrationale Kursreaktionen
Die Forschung im Bereich der Behavioral Finance hat in den letzten Jahrzehnten immer besser belegen können, dass Informationen vom Marktpublikum mitunter systematisch verzerrt wahrgenommen oder verarbeitet werden und in der Folge nicht ihrem Fundamentalwert entsprechend in die Preise eingearbeitet werden. In einem besonders hysterischen oder euphorischen Marktumfeld können also auch Informationen, denen es völlig an...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 01.03.2023 09:37
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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