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EuGH: Diesel-Skandal begründet individuelle Schadensersatzansprüche aus Delikt

Mit erkennbar großer Sorge wartete die Justiz, vor allem die Richterschaft in Karlsruhe, auf die Entscheidung des EuGH, welche auf den Vorlagebeschluss des LG Ravensburg (BeckRS 2021, 7681) ergehen sollte, allerdings durch die Schlussanträge des Generalanwalt Athanasios Rantos (ZIP 2022, 1212) bereits weitgehend vorgeprägt war: Art. 5 Abs. 2 der Fahrzeug-Emissions-VO (VO (EG) Nr. 715/2007) sollte drittschützende Wirkung i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB entfalten. Genau das hat soeben der EuGH zugunsten der getäuschten und geschädigten Fahrzeugkäufer und Opfer der Manipulationen (Stichwort: Thermofenster) nachdrücklich bestätigt (EuGH, Urt. v. 21.3.2023 – C-100/21 – Mercedes-Benz Group): Zusammen mit der Rahmen-RL 2007/46/EG (Genehmigung von Kraftfahrzeugen, Systemen und Bauteilen) ist Art. 5 Abs. 2 der VO (EG) Nr. 715/2007 dahin auszulegen, dass es die Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung untersagt und damit neben dem Schutz der allgemeinen Rechtsgüter auch den Schutz der „Einzelinteressen“ bewirkt.

Selbstredend steht der von dieser VO angestrebte Schutz der Umwelt – Einhaltung der Stickstoff-Emissionswerte – im Vordergrund (Rz. 70). Daher liegt es auf der Hand, dass die Rahmen-RL nur dann den Mitgliedstaaten Zulassung, Verkauf oder Inbetriebnahme von Fahrzeugen gestattet, „wenn diese den Anforderungen dieser Richtlinie entsprachen“ (Rz. 75). Vor allem betont der EuGH, dass der Hersteller gem. Art. 4 Abs. 1 der VO (EG) Nr. 715/2007 nachweist, „dass alle von ihm verkauften, zugelassenen oder in der Union in Betrieb genommenen Neufahrzeuge über eine Typgenehmigung gemäß dieser Verordnung und ihren Durchführungsmaßnahmen verfügen“ (Rz. 76). Danach knüpft der Gerichtshof an die ebenfalls als einschlägig einzustufende Regel des Art. 18 Abs. 1 der Rahmen-RL 2007/46/EG an, wonach die Hersteller im Rahmen eines Verkaufs gesetzlich verpflichtet sind, „dem individuellen Käufer eines Fahrzeugs eine Übereinstimmungsbescheinigung auszuhändigen“ (Rz. 78).

Daher kann und darf – so der EuGH weiter – jeder vernünftige Käufer erwarten, dass der Hersteller eines Fahrzeugs im Besitz aller für den rechtmäßigen Betrieb des verkauften Fahrzeugs erforderlichen Typgenehmigungen ist. Folglich stellen die einschlägigen Rechtsregeln – und das zielt direkt auf § 823 Abs. 2 BGB – „eine unmittelbare Verbindung zwischen dem Automobilhersteller und dem individuellen Käufer eines Kraftfahrzeugs her, mit der diesem gewährleistet werden soll, dass das Fahrzeug mit den maßgeblichen Rechtsvorschriften der Union übereinstimmt“ (Rz. 82). Genau dies soll dann auch den „individuellen Käufer“ des Fahrzeugs davor schützen, „dass der Hersteller seine Pflicht, im Einklang mit dieser Bestimmung stehende Fahrzeuge auf den Markt zu bringen, nicht einhält“ (Rz. 82).

Wenn aber dann – so lief es ja im „Diesel-Skandal“ – die „Unzulässigkeit einer Abschalteinrichtung“ erst später, d.h. oft lange Zeit nach dem Verkauf des betreffenden Fahrzeugs entdeckt wird, dann stellt das die „Gültigkeit“ der erteilten Emissionsgenehmigung und eben auch die „Übereinstimmungsbescheinigung“ „in Frage“ (Rz. 84) und ist also eine Verletzung des Unionsrechts. Das aber „kann“ einen Schaden des individuellen Käufers begründen.

Das ist an dieser Stelle noch vorsichtig formuliert, führt aber sogleich bei der Beantwortung der nachfolgenden Vorlagefrage zu der unabweisbaren Feststellung des EuGH: Aus den unionsrechtlichen Bestimmungen geht hervor, „dass ein individueller Käufer eines Kraftfahrzeugs gegen den Hersteller dieses Fahrzeugs einen Anspruch darauf hat, dass dieses Fahrzeug nicht mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung i.S.v. Art. 5 Abs. 2 dieser Verordnung ausgestattet ist“ (Rz. 89). Dies öffnet das Tor zu der entscheidenden Aussage im Sinn des Grundsatzes der unionsrechtlich gebotenen Effektivität (Rz. 93): Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, „dass es in Ermangelung einschlägiger unionsrechtlicher Vorschriften Sache des Rechts des betreffenden Mitgliedstaats ist, die Vorschriften über den Ersatz des Schadens festzulegen, der dem Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung i.S.v. Art. 5 Abs. 2 der VO Nr. 715/2007 ausgestatteten Fahrzeugs tatsächlich entstanden ist, vorausgesetzt, dass dieser Ersatz in einem angemessenen Verhältnis zum entstandenen Schaden steht“ (Rz. 96).

Wie wird es weitergehen?

1. Als erstes diese Feststellung: Die mehr als eindeutigen Aussagen des EuGH stehen quer zur bisherigen Auffassung des BGH, wonach im Diesel-Skandal nur Ansprüche nach § 826 BGB in Betracht kommen (BGH ZIP 2021, 297). Der Vorwurf einer objektiven und vorsätzlich herbeigeführten Sittenwidrigkeit ist meilenweit von der auf einfacher Fahrlässigkeit beruhenden Deliktshaftung im Rahmen von § 823 Abs. 2 BGB entfernt. Die objektive Pflichtverletzung durch Einbau des unzulässigen „Thermofensters“ indiziert bereits das Verschulden des Herstellers. Das unionsrechtliche Prinzip des Effektivitätsgrundsatzes (Rz. 93) steht daher einer unbeirrten Fortsetzung des justiziellen Aufarbeitens des „Diesel-Skandals“ im Weg. Es gibt also kein „Weiter so!“.

2. Doch damit nicht genug. Man wird sich auch der Verjährungsfrage widmen müssen. Hier gilt ja nach § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB, dass die Verjährung erst dann beginnt, wenn der Anspruch entstanden und der Berechtigte von den Tatsachen Kenntnis erlangt hat, welche den geltend zu machenden Anspruch begründen. Dazu gehört bei einem Schadenersatzanspruch auch die Pflichtverletzung. Auch bei der unionsrechtlich verankerten Verjährung arbeitet der EuGH mit dem Effektivitätsgrundsatz. Er verlangt, dass die Ausübung der durch einen Unionsakt dem Unionsbürger verliehenen Rechte weder praktisch unmöglich gemacht oder „übermäßig erschwert“ werden (EuGH BeckRS 2021, 13384 – BNP Paribas Personal Finance Rz. 40; EuGH ZIP 2022, 1910 – D.B.P. Rz. 66). Doch genau das trifft zu, weil die einen Anspruch wegen sittenwidriger Schädigung nach § 826 BGB begründenden Tatsachen ganz und gar andere sind als die, welche nunmehr im Rahmen eines deliktischen Anspruchs nach § 823 Abs. 2 BGB als ausreichend erachtet werden.

3. Es kann durchaus unionsrechtlich zulässig sein, auch noch einen Schritt weiterzugehen. Der EuGH (ZIP 2022, 1176 – SPV Project 1503) hat nämlich entschieden, dass sich der Grundsatz der Effektivität auch gegenüber einer bereits rechtskräftigen Entscheidung durchsetzt. Diese Festlegung hat der Gerichtshof im Blick auf die Klausel-RL aufgestellt. Danach kann die Rechtskraft eines Mahnbescheids der Verpflichtung des nationalen Gerichts nicht entgegenhalten werden, die sich aus der Missbräuchlichkeit einer Klausel ergibt – mit der Folge, dass der so unionsrechtlich nach Art. 47 EuGRC zu gewährende Rechtsschutz zugunsten des Verbrauchers Vorrang besitzt. Es ist nur ein Trippelschritt, dieses Urteil mit dem hier zu referierenden parallel zu schalten und so auch die Masse der rechtskräftig wegen Verjährung oder wegen fehlenden Nachweises der Sittenwidrigkeit abgewiesenen Urteile wiederaufzurollen.



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 22.03.2023 08:07
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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