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BGH v. 22.3.2023 - IV ZR 95/22

Gekündigter Lebensversicherungsvertrag: Gleichzeitig Widerruf der Bezugsberechtigung auf den Todesfall?

Es gibt keinen Erfahrungssatz, wonach die Kündigung eines Lebensversicherungsvertrages durch den Versicherungsnehmer stets zugleich den Widerruf der Bezugsberechtigung auf den Todesfall enthält, sondern diese Frage ist durch Auslegung der Erklärung im Einzelfall zu entscheiden.

Der Sachverhalt:
Die Klägerin, eine Versicherungsgesellschaft, nimmt die Beklagte auf Rückzahlung des Rückkaufswerts einer Rentenversicherung in Anspruch. Die Beklagte ist aufgrund gesetzlicher Erbfolge Alleinerbin nach ihrer Mutter, der Versicherungsnehmerin der Klägerin. Die Versicherungsnehmerin unterhielt bei der Klägerin eine Rentenversicherung gegen Einmalzahlung von 20.000 € mit Versicherungs- und Rentenbeginn am 1.6.2012. Ab dem 1.9.2012 erhielt sie eine vierteljährliche Rente i.H.v. rd. 180 €. Im Versicherungsantrag vom 9.5.2012 bestimmte die Versicherungsnehmerin ihren Lebensgefährten (Streitverkündeter) als widerruflich Bezugsberechtigten im Todesfall, der als solcher auch im Versicherungsschein eingetragen ist.

In den maßgeblichen Allgemeinen Versicherungsbedingungen der Klägerin (AVB) heißt es in § 6 unter der Überschrift "Wann können Sie Ihre Versicherung kündigen?":
"Fristen
1. Sie können
- jederzeit zum Ende einer Versicherungsperiode oder
- mit einer Frist von einem Monat zum nächsten Monatsersten
Ihre Versicherung schriftlich kündigen."

In § 12 ist unter der Überschrift "Wer erhält die Leistung?" geregelt:
"1. Die Leistung erbringen wir an Sie oder an Ihre Erben, falls Sie uns keine andere Person benannt haben, die die Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag bei deren Fälligkeit erwerben soll (Bezugsberechtigter). Bis zur jeweiligen Fälligkeit können Sie das Bezugsrecht jederzeit widerrufen.
4. Die Einräumung und der Widerruf eines Bezugsrechts sind uns gegenüber nur und erst dann wirksam, wenn sie uns vom bisherigen Berechtigten schriftlich angezeigt worden sind."

Mit Schreiben vom 18.2.2019 erklärte die Versicherungsnehmerin gegenüber der Klägerin insbesondere: "hiermit kündige ich meine Rentenversicherung zum 1.4.19. Bitte überweisen Sie mir den Restbetrag auf mein Konto bei der Kreissparkasse". Die Klägerin kehrte daraufhin schon am 26.3.2019 einen Betrag in Höhe der Klageforderung von rd. 16.000 € an die Versicherungsnehmerin aus. Der Betrag wurde ihrem Konto am 27.3.2019 gutgeschrieben. Einen Tag später, am 28.3.2019, verstarb sie und wurde von der Beklagten beerbt.

Mit Schreiben vom 13.9.2019 zeigte die Beklagte der Klägerin, die vom Tod der Versicherungsnehmerin zuvor keine Kenntnis hatte, das Versterben der Versicherungsnehmerin an und teilte mit, dass sämtliche zu Gunsten des Streitverkündeten bestehenden Vollmachten widerrufen worden seien; zugleich widerrief sie etwa zu seinen Gunsten bei der Klägerin bestehende Bezugsrechte. Mit Schreiben vom 1.10.2020 erklärte die Klägerin, dass ein Widerruf des Bezugsrechts wegen des Eintritts des Versicherungsfalls nicht mehr möglich sei. Sie werde den Widerruf aber insofern achten, als sie dem Streitverkündeten kein Angebot auf Abschluss eines Schenkungsvertrages mehr überbringen werde. Außerdem forderte sie die Beklagte auf, den erhaltenen Betrag zurückzuzahlen.

Die Klägerin ist der Ansicht, der Kündigung des Versicherungsvertrages könne kein Widerruf des Bezugsrechts entnommen werden. Die Kündigung sei gem. § 6 AVB erst zum 1.4.2019 wirksam geworden, so dass zum Zeitpunkt des Todes der Versicherungsnehmerin der Vertrag noch bestanden habe. Mit Eintritt des Versicherungsfalls habe der Streitverkündete den Anspruch auf die Todesfallleistung erworben. Die Zahlung i.H.v. rd. 16.000 € sei daher ohne Rechtsgrund erfolgt. Mit der Klage begehrt die Klägerin Rückzahlung dieses Betrages.

Das LG gab der Klage statt. Auf die Berufung der Beklagten verurteilte das OLG die Beklagte lediglich zur Zahlung von rd. 1.000 € und wies die Klage i.Ü. ab. Auf die Revision der Klägerin gab der BGH der Klage statt.

Die Gründe:
Die Kündigungserklärung des Versicherungsnehmers einer Lebensversicherung, die mit einem Auszahlungsbegehren an sich selbst verbunden ist, enthält entgegen der Ansicht des OLG jedenfalls bei einem Bezugsrecht auf den Todesfall - wie hier - ohne weitere Anhaltspunkte nicht stets zugleich konkludent auch den Widerruf dieses Bezugsrechts.

Zutreffend nimmt das OLG allerdings an, dass der Widerruf der Bezugsberechtigung durch den Versicherungsnehmer eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung gegenüber dem Versicherer ist, die auf den Zeitpunkt ihrer Abgabe abstellend aus Sicht des Versicherers als objektiver Empfänger gem. §§ 133, 157, 242 BGB auszulegen ist. Der Tatrichter hat nach ständiger Senatsrechtsprechung eine einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärung so auszulegen, wie der Erklärungsempfänger sie nach Treu und Glauben und unter Berücksichtigung der Verkehrssitte von seinem Empfängerhorizont aus verstehen musste. Innerhalb dieses normativen Rahmens kommt es darauf an, was der Erklärende gewollt und inwieweit er seinen Willen für den Erklärungs-empfänger erkennbar zum Ausdruck gebracht hat. Das OLG hat insoweit auch zu Recht ausgeführt, dass die Versicherungsnehmerin sich in ihrem Kündigungsschreiben vom 18.2.2019 nicht ausdrücklich zum Fortbestand oder Widerruf des Bezugsrechts geäußert und auch keine Angaben zu den Hintergründen ihrer Kündigung gemacht hat, sondern der für die Klägerin erkennbare, ausdrückliche Gehalt der Erklärung sich darauf beschränkt, dass die Versicherungsnehmerin den Vertrag zum nächstmöglichen Termin beendet wissen will und darum bittet, dass "der Restbetrag" auf ihr Konto überwiesen werden möge.

Unvereinbar damit ist jedoch die Annahme des OLG, dass ohne Hinzutreten gegenläufiger Anhaltspunkte in einem Kündigungsschreiben diesem regelmäßig der Wille des Versicherungsnehmers zu entnehmen ist, dass er zugleich widerruflich bestehende Bezugsrechte widerrufen will. Zwar unterliegt die tatrichterliche Auslegung rechtsgeschäftlicher Willenserklärungen einer nur eingeschränkten Revisionskontrolle, die lediglich prüft, ob gesetzliche Auslegungsregeln (§§ 133, 157 BGB) oder Verfahrensvorschriften verletzt, Denk- oder Erfahrungssätze missachtet und vom Tatrichter selbst festgestellte, entscheidungserhebliche Tatsachen nicht gebührend berücksichtigt worden sind. Aber auch nach diesem Maßstab kann das Berufungsurteil keinen Bestand haben. Die von ihm angenommene Regel beruht nicht auf der Auslegung der konkreten Willenserklärung, sondern in der Annahme eines Erfahrungssatzes, den es in der von ihm angenommenen Allgemeinheit jedenfalls im Fall eines Bezugsrechts auf den Todesfall nicht gibt.

Es ist allerdings umstritten, ob einer Kündigungserklärung des Versicherungsnehmers im Regelfall, ohne Hinzutreten weiterer Anhaltspunkte, konkludent auch der Wille des Versicherungsnehmers zu entnehmen ist, dass er damit zugleich ein widerruflich bestehendes Bezugsrecht widerrufen will. Dieser Ansicht ist in der Rechtsprechung insbesondere der IX. Zivilsenat des BGH. Er hat die vom OLG angenommene Auslegungsregel ohne nähere Begründung anknüpfend an ein Zitat von Kollhosser in einem Urteil vom 4.3.1993 vertreten (IX ZR 169/92). In späteren Urteilen hat der IX. Zivilsenat diese Regel nur eng bezogen auf das Insolvenzrecht angenommen. In der Literatur wird eine solche Auslegungsregel ebenfalls teilweise befürwortet. Teilweise wird die Regel allerdings einschränkend nur unter der Voraussetzung angenommen, dass es einen Anhalt dafür gibt, dass der Versicherungsnehmer den Rechtserwerb des Bezugsberechtigten beim Eintritt des Versicherungsfalles vor dem Wirksamwerden der Kündigung verhindern will. Nach anderer Ansicht gibt es keinen Erfahrungssatz, wonach die Kündigung eines Lebensversicherungsvertrages, jedenfalls durch den Versicherungsnehmer, zugleich den Widerruf der Bezugsberechtigung einschließt.

Die letztgenannte Auffassung trifft zu. Es gibt keinen Erfahrungssatz, wonach die Kündigung eines Lebensversicherungsvertrages durch den Versicherungsnehmer stets zugleich den Widerruf der Bezugsberechtigung auf den Todesfall enthält. Vielmehr ist auch in einem solchen Fall die Frage, ob die Kündigung konkludent nach dem Willen des Versicherungsnehmers ebenfalls einen Widerruf der Bezugsberechtigung enthalten soll, durch Auslegung seiner Erklärung zu beantworten. Zu berücksichtigen ist dabei, dass bei einer Erklärung im Rahmen einer vertraglichen Vereinbarung im Interesse des Vertragspartners, hier des Versicherers, weitgehend auf deren Wortlaut und darauf abzustellen ist, wie die Erklärung aus dessen Sicht zu verstehen ist. Danach ist vorliegend der Kündigungserklärung der Versicherungsnehmerin aus Sicht der Klägerin nicht konkludent der Widerruf der Bezugsberechtigung zu entnehmen. Ein solcher erschließt sich der Klägerin auch nicht aus den Umständen. Aus dem Wortlaut des Schreibens ergibt sich für sie nur die Erklärung der Kündigung. Im Hinblick auf das hier vereinbarte Bezugsrecht auf den Todesfall gibt es auch keinen Hinweis für die Klägerin, dass sich die wirtschaftlichen Motive der Versicherungsnehmerin, insbesondere ihren Lebensgefährten im Todesfall finanziell zu bedenken, insoweit geändert haben könnten.

Mehr zum Thema:

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 20.04.2023 11:24
Quelle: BGH online

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