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Einzel- und Gesamtbetrachtung bei der Haftung aus § 15b InsO - Von einer "Delikatesse", an der sich leicht verschlucken lässt (Bitter, ZIP 2024, 153)

Das SanInsFoG hat zum 1.1.2021 die Haftung für Zahlungen nach Insolvenzreife mit § 15b InsO auf eine neue Grundlage gestellt und dabei insbesondere auch die Rechtsfolge in Absatz 4 der Vorschrift neu geregelt. Karsten Schmidt hat es als „Delikatesse des gefundenen Kompromisses“ zwischen Einzel- und Gesamtbetrachtung bezeichnet, dass Satz 1 jenes vierten Absatzes bei jeder Zahlung als Einzelvorgang ansetzt, während der in Satz 2 adressierte Gesamtgläubigerschaden, weil untrennbar mit der Insolvenzverschleppung verbunden, nur periodisch auf die Verschleppungsdauer bezogen sein kann. Das heutige Recht wird dadurch noch komplexer als das alte. In vielen früher insbesondere für § 64 GmbHG a.F. diskutierten Rechtsfragen ist jetzt zwischen der Einzelbetrachtung des § 15b Abs. 4 Satz 1 InsO und der Gesamtbetrachtung des § 15b Abs. 4 Satz 2 InsO zu unterscheiden. Diese teils auf einen Zeitpunkt, teils auf einen Zeitraum bezogene Sichtweise bringt diverse bislang nicht hinreichend erkannte Probleme mit sich. Die hierzu im nachfolgenden Beitrag angestellten Überlegungen sind Karsten Schmidt zu seinem 85. Geburtstag am 24.1.2024 gewidmet.

I. Einführung
II. Einzel- und Gesamtbetrachtung im alten Recht als Basis der heutigen Probleme

1. Der Grundsatzstreit im alten Recht der Zahlungsverbote
2. Kombination von Einzel- und Gesamtbetrachtung im heutigen § 15b Abs. 4 InsO
3. Einzelkompensation und Gesamtkompensation im heutigen Recht
III. Einzelprobleme zwischen Einzel- und Gesamtbetrachtung
1. Ausgleich für die „ersparte“ Insolvenzquote und Abtretung von Anfechtungsansprüchen
a) Ausgleich für die „ersparte“ Insolvenzquote im alten Recht
b) Anspruch auf Abtretung von Anfechtungsansprüchen im alten Recht
c) Änderung der früheren Grundsätze bei der Gesamtbetrachtung nach § 15b Abs. 4 Satz 2 InsO
aa) Kein Vorbehalt in Höhe der „ersparten“ Insolvenzquote
bb) Kein Anspruch auf Abtretung von Anfechtungsansprüchen
d) Fortgeltung der früheren Grundsätze nur bei einer Verurteilung zur Erstattung von Einzelzahlungen nach § 15b Abs. 1 Satz 1 InsO
2. Verjährung
a) Verjährungsbeginn mit jeder einzelnen Zahlung im alten Recht
b) Der Meinungsstand zum neuen Recht
c) Stellungnahme: Gesamtverlust der letzten fünf Jahre als Maximum der Haftung
3. Streitgegenstand der Haftungsklage
a) Gleicher Streitgegenstand bei Verletzung des Zahlungsverbots und bei Insolvenzverschleppung?
b) Gleicher Streitgegenstand bei Kontoeingängen und Kontoausgängen im debitorischen Bereich?
4. Relevanz der Reihenfolge von Zahlung und Gegenleistung sowie der Person des Leistenden?
a) Grenzen der Einzelkompensation im alten Recht
b) Irrelevanz der Leistungsreihenfolge sowie der Person des Leistenden bei der Gesamtbetrachtung
5. Relevanz der Passiva zur Bestimmung des Haftungsumfangs?
a) Fehlende Berücksichtigung zusätzlicher Passiva bei der Einzelbetrachtung
b) Streitige Bedeutung der Passiva bei der Gesamtbetrachtung
6. Zeitpunkt der Wertbestimmung bei Kompen-sation(en)
a) Bewertung zum Zeitpunkt des Massezuflusses bei der Einzelkompensation
b) Bewertung zum Ende der Verschleppungsperiode bei der Gesamtkompensation
IV. Fazit
V. Zusammenfassende Thesen


I. Einführung

Der Gesetzgeber des SanInsFoG hat uns bekanntlich nicht nur den vieldiskutierten Restrukturierungsrahmen nach dem StaRUG als zusätzliches Sanierungsinstrument verschafft, sondern auf den letzten Metern des Gesetzgebungsverfahrens auch noch das in der Praxis der Insolvenzverwaltung äußerst bedeutsame Verbot von Zahlungen nach Insolvenzreife aus den gesellschaftsrechtlichen Kodifikationen in die Insolvenzordnung verlagert und dabei im heutigen § 15b InsO nicht unerheblich modifiziert. Zum einen hat es die Sorgfaltsausnahme des früheren § 64 Satz 2 GmbHG a.F. und heutigen § 15b Abs. 1 Satz 2 InsO neu geordnet. Zum anderen hat der Gesetzgeber – und allein davon soll hier die Rede sein – die Rechtsfolgenseite in § 15b Abs. 4 Sätzen 1 und 2 InsO neu gefasst und sich dabei in einem zuvor leidenschaftlich geführten Meinungsstreit zwischen Einzel- und Gesamtbetrachtung in der Mitte positioniert, um nicht zu sagen: zwischen die Stühle gesetzt. Wie es so mancher Kompromiss mit sich bringt, verwischt er die gegensätzlichen, jeweils für sich klaren Konzepte und schafft damit noch mehr Probleme, als es sie auf der Basis des einen oder anderen Konzeptes gegeben hätte. Und es verwundert nicht, dass Karsten Schmidt als langjähriger Kommentator des Zahlungsverbots den Kern des Problems sogleich erkannt hat. In dem von ihm herausgegebenen und mitverfassten Beck’schen Kurz-Kommentar zur Insolvenzordnung lesen wir zur Begrenzung der Zahlungserstattung auf den Gesamtgläubigerschaden in § 15b Abs. 4 Satz 2 InsO:

„Nach Abs. 4 Satz 2 beschränkt sich die Ersatzpflicht auf den Ausgleich des Gesamtgläubigerschadens. Ist dieser geringer als die nach Abs. 4 Satz 1 zu erstattende(n) Zahlung(en), so begrenzt er die zu leistende Zahlung (Gesamtgläubigerschaden als Kappungsgrenze). Diese Regelung ist Ausdruck des mit § 15b angestrebten Kompromisses zwischen den unter der Geltung des § 64 GmbHG aF und seiner Schwestervorschriften streitenden Ansichten (... strikte Erstattung jeder im Zustand der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung geleisteten Zahlung ohne Rücksicht auf die entstandene Schadenshöhe oder Ersatz [nur] des verursachten Verschleppungsschadens?). Diese bis 2020 an die umstrittene Rechtsnatur der Haftung für verbotene Zahlungen anknüpfenden Rechtspositionen blieben im SanInsFoG unentschieden und sollen durch Abs. 4 Satz 2 miteinander versöhnt werden (...). Die Delikatesse des gefundenen Kompromisses besteht allerdings darin, dass der Haftungstatbestand des Abs. 4 Satz 1 iVm Abs. 1 bei jeder Zahlung als Einzelvorgang und nicht bei dem Dauerdelikt der Insolvenzverschleppung ansetzt, während der Gesamtgläubigerschaden, weil untrennbar mit der Insolvenzverschleppung verbunden, nur periodisch auf die Verschleppungsdauer bezogen sein kann (...). Damit ist unsicher, ob der „der Gläubigerschaft entstandene Schaden“ (Abs. 4 Satz 2) als Kappungsgrenze auf die einzelne verbotene Zahlung bezogen, also durch sie verursacht sein soll oder ob es sich um den gemäß § 92 zu ersetzenden periodischen Gesamtgläubigerschaden wegen Insolvenzverschleppung handeln soll (...). Hiervon hängt ab, ob die Begrenzung der Erstattungshaftung auf den Gesamtgläubigerschaden je für die einzelne verbotene Zahlung festzustellen ist oder ob sie erst mit der Erschöpfung des Gesamtgläubigerschadens eingreift.“

In der zuletzt angesprochenen Streitfrage, ob die in § 15b Abs. 4 Satz 2 InsO bestimmte Deckelung auf den der Gläubigerschaft entstandenen Schaden im Sinne des bisherigen Aktiventauschs auf die einzelne erbrachte Zahlung bezogen ist oder sie den Gesamtschaden im Zeitraum der Insolvenzreife bzw. Insolvenzverschleppung in den Blick nimmt, hat sich zwischenzeitlich eine ganz herrschende Ansicht im zuletzt genannten Sinne herausgebildet (dazu sogleich unten Ziff. II. 2.). Auf dieser Basis liegt – in Übereinstimmung mit Karsten Schmidt – die „Delikatesse“ der Neuregelung darin, dass der Insolvenzverwalter zunächst nach § 15b Abs. 4 Satz 1 InsO einzelne haftungsbegründende Zahlungen vorbringen kann, bei denen sich der hierdurch für die Gläubigerschaft entstehende Nachteil auf einen konkreten Zeitpunkt bestimmen lässt – sei es der Zeitpunkt der „Zahlung“ oder der Einzelkompensation, die im Gegenzug für jene einzelne „Zahlung“ in die Masse geflossen ist. Sodann ist nach § 15b Abs. 4 Satz 2 InsO zusätzlich eine periodenbezogene Gesamtbetrachtung anzustellen, in deren Rahmen es festzustellen gilt, ob die insgesamt im Zeitraum der Insolvenzreife bzw. Insolvenzverschleppung erbrachten Masseabflüsse durch irgendwelche Massezuflüsse oder sonstige Vorteile ausgeglichen wurden, so dass der Gesamtgläubigerschaden hinter der Addition der „Zahlungen“ zurückbleibt (Gesamtkompensation). Da jener Gesamtgläubigerschaden nach dem in § 15b Abs. 4 InsO angelegten, sogleich unter Ziff. II. 2. noch darzulegenden Konzept des Gesetzgebers im Umfang der einzelnen Zahlungen widerleglich vermutet wird, ergibt sich eine in der bisherigen Diskussion zu § 15b InsO nicht hinreichend in den Blick genommene, von Karsten Schmidt jedoch mit Scharfsinn aufgespürte Problematik: Der Vermutungstatbestand der einzelnen Zahlungen ist zeitpunktbezogen, während der vermutete Tatbestand des Gesamtgläubigerschadens zeitraumbezogen ist. Dieser unterschiedliche Ansatzpunkt (Zeitpunkt- vs. Zeitraumbetrachtung) wirkt sich auf eine ganze Reihe von Einzelfragen aus, die schon zum alten Recht umstritten waren. Er hat insbesondere Auswirkung auf die Verjährung, aber etwa auch auf die streitige Relevanz (1) der Reihenfolge von Leistung und Gegenleistung, (2) der Neubegründung von Passiva, (3) der eine Kompensation erbringenden Person, (4) des Zeitpunkts, auf den die Kompensation zu berechnen ist, ferner (5) auf die Vorbehalte, unter die eine Verurteilung des Geschäftsleiters zu stellen ist, sowie (6) auf die Frage, welchen Streitgegenstand die Haftungsklage aus § 15b InsO hat und ob dieser identisch ist mit dem Streitgegenstand der Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 15a, 92 InsO. Die dadurch hervorgerufene zusätzliche Komplexität des heutigen Zahlungsverbots in § 15b InsO steht im Mittelpunkt der nachfolgenden Überlegungen.

II. Einzel- und Gesamtbetrachtung im alten Recht als Basis der heutigen Probleme
Im Grundsatz ist zwar im alten und neuen Recht anerkannt, dass der Begriff der Zahlung weit zu verstehen ist und er deshalb über Geldleistungen hinaus auch sonstige Schmälerungen des zur Gläubigerbefriedigung geeigneten Aktivvermögens erfasst. Höchst umstritten war jedoch zum früheren § 64 GmbHG a.F. die Frage, ob der Geschäftsführer dabei – wie es der Wortlaut zunächst nahelegt – auf den Ersatz jedes einzelnen (!) Vermögensabflusses nach Insolvenzreife, also letztlich auf den danach getätigten Umsatz haftet oder nicht im Gegenzug auch die während der Insolvenzreife eingetretenen Vermögenszuflüsse zu berücksichtigen sind, der Geschäftsführer also nur für die insgesamt eingetretene Masseschmälerung verantwortlich ist.

1. Der Grundsatzstreit im alten Recht der Zahlungsverbote
Die Rechtsprechung des II. Zivilsenats des BGH orientierte sich seit der „Entdeckung“ der Haftungsnorm Ende 1999 im Grundsatz am Wortlaut und vertrat folglich die erstgenannte Position (sog. Einzelbetrachtung). Danach ergab sich der vom Geschäftsleiter zu erstattende Haftungsbetrag aus der Addition der einzelnen Vermögensabflüsse im Zustand der Insolvenzreife (von Karsten Schmidt sog. „Additionsmethode“), während die im gleichen Zeitraum der Masse zugeflossenen Vorteile grundsätzlich nicht berücksichtigt wurden. Erst in den Jahren 2014 und 2015 schränkte der BGH seine wohl überwiegend auch im Schrifttum geteilte, teilweise auf eine Parallele zur Insolvenzanfechtung gestützte überstrenge Sichtweise in zwei Grundsatzentscheidungen dahingehend ein, dass...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 30.01.2024 18:12
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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