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Die Aussetzung des Ausgangsverfahrens gem. § 8 KapMuG - warum der XI. Senat seine Rechtsprechung korrigieren muss (Klöhn/Zell, ZIP 2024, 321)

Anlegerklagen haben Konjunktur, man denke nur an die Fälle VW und Porsche (Diesel), EY (Wirecard) und Bayer (Monsanto). Kaum eine Frage ist dabei so bedeutsam wie die, unter welchen Voraussetzungen das Prozessgericht den Einzelrechtsstreit gem. § 8 KapMuG aussetzen muss. Der XI. Zivilsenat des BGH hat eine sehr restriktive Linie eingenommen. Das Ergebnis dieser Rechtsprechung ist ein faktischer Vorrang des Einzelverfahrens vor dem Musterverfahren, das dadurch erheblich an Schlagkraft verliert. Das OLG München hat dem BGH daher kürzlich die Gefolgschaft verweigert. Der folgende Beitrag analysiert die Rechtsprechung des XI. Senats und zeigt, dass sie weder mit den Vorgaben des einfachen Rechts vereinbar ist noch auf die von dem BGH vertretene verfassungskonforme Auslegung des § 8 KapMuG gestützt werden kann.

I. Einleitung
II. Grundzüge des Musterverfahrens
III. Zwei Konzepte der „Abhängigkeit“

1. Überblick
2. „Konkrete Abhängigkeit“
3. „Abstrakte Abhängigkeit“
4. Bedeutung der unterschiedlichen Ansichten
IV. Die Abhängigkeit von den Feststellungszielen nach einfachem Recht
V. Verfassungskonforme Auslegung

1. Überblick
2. Grenzen der verfassungskonformen Auslegung
3. Justizgewährungsanspruch als subjektives Recht
4. Die Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers
5. Verfassungskonforme Ausgestaltung des Justizgewährungsanspruchs in § 8 Abs. 1 KapMuG
a) Überblick
b) Verzögerung des Einzelverfahrens bei tatsächlich nicht entscheidungserheblichem Musterverfahren
c) Beteiligung an den Kosten eines möglicherweise nicht entscheidungserheblichen Musterverfahrens
6. Verletzung des Justizgewährungsanspruchs durch Verkürzung des einfachrechtlich vorgesehenen Rechtsschutzes
7. Ergebnis
VI. Thesen


I. Einleitung

Unter welchen Voraussetzungen muss das Prozessgericht einen Einzelrechtsstreit aussetzen, um den Ausgang eines Kapitalanlegermusterverfahrens abzuwarten? Auf den ersten Blick mutet die Frage technisch an, doch die Suche nach der richtigen Antwort führt geradewegs zum Herz des KapMuG: dem Ziel eines effektiven Rechtsschutzes für geschädigte Kapitalanleger.

In seinem Beschluss vom 30.4.2019 entschied der XI. Zivilsenat des BGH, dass das Einzelverfahren nur dann ausgesetzt werden darf, „wenn sich das ProzessGer. bereits die Überzeugung (§ 286 ZPO) gebildet hat, dass es auf dort statthaft geltend gemachte Feststellungsziele für den Ausgang des Rechtsstreits konkret ankommen wird. Das gilt auch dann, wenn hierzu eine Beweisaufnahme durchzuführen ist. Der Rechtsstreit hängt iSd § 8 I KapMuG erst dann von den Feststellungszielen des Musterverfahrens ab, wenn nur noch Tatsachen oder Rechtsfragen offen sind, die unabhängig vom Ausgang des Musterverfahrens nicht beantwortet werden können.“

Der BGH verlangt damit die konkrete Abhängigkeit des Einzelverfahrens von dem Musterverfahren. Dieser Auffassung hat der 8. Senat des OLG München widersprochen und sich der herrschenden Gegenansicht in der Literatur angeschlossen, nach der es genügt, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von den Feststellungszielen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit abhängen kann (abstrakte Abhängigkeit). Das OLG München hielt „die gegenteilige Auffassung des XI. Zivilsenats des BGH für dem Willen des Gesetzgebers widersprechend und auch sonst – zumindest in dieser Allgemeinheit – für kaum praktikabel“.

Der Disput zwischen dem OLG München und dem BGH legt es nahe, die Frage der Abhängigkeit des Einzelrechtsstreits von den Feststellungszielen des Musterverfahrens näher zu beleuchten. Dies gilt umso mehr, als die Entscheidung des BGH schon auf den ersten Blick Besonderheiten aufweist:

  • Erstens kommt der BGH zu seinem Ergebnis nicht aufgrund einer Auslegung des KapMuG, sondern stützt seine – den Gesetzesmaterialien zum KapMuG klar widersprechende – Auffassung allein auf das Gebot verfassungskonformer Auslegung. Mit den vom BVerfG herausgearbeiteten Grenzen der verfassungskonformen Auslegung 6 setzt sich der BGH allerdings nicht auseinander.
  • Zweitens argumentiert der BGH mit dem Rechtsschutzgedanken im Einzelverfahren, analysiert jedoch nicht näher, welche Folgen seine Auslegung für den Verlauf der Einzel- und des Musterverfahrens hat. Diese Folgenanalyse hat der Vorsitzende des 8. Senats des OLG München Herbert Lechner eindringlich geschildert: „Die vom [XI.] Senat verlangte Vorklärung sämtlicher Vorfragen in ggf. umfangreichen individuellen Beweisaufnahmen würde [...] ihrerseits noch zu einer ganz erheblichen weiteren Verlängerung der Musterverfahren führen.“ Und: „Es bleibt zu hoffen, dass die übrigen Zivilsenate des BGH [dem XI. Senat] nicht folgen – sonst muss der Gesetzgeber sein Musterverfahren erneut vor dem BGH retten.“

Im Folgenden soll die BGH-Entscheidung vom 30.4.2019 daher einer Analyse unterzogen werden. Zunächst soll kurz die Funktionsweise des KapMuG rekapituliert werden (II). Danach werden die beiden bereits oben genannten Auslegungsvarianten (konkrete oder abstrakte Abhängigkeit) dargestellt und erläutert (III). Ein Blick in das einfache Recht zeigt sodann relativ eindeutig, dass dem KapMuG das Konzept der abstrakten Abhängigkeit zugrunde liegt (IV). Im Zentrum steht daher die verfassungskonforme Auslegung des § 8 KapMuG, auf die sich der XI. Senat maßgeblich stützt (V).

II. Grundzüge des Musterverfahrens
Am Anfang des Kapitalanleger-Musterverfahrens steht ein Musterverfahrensantrag, den eine Prozesspartei in ihrem Einzelrechtsstreit beim Gericht stellt. Der Antrag enthält bestimmte Feststellungsziele, die anspruchsbegründende oder anspruchsausschließende Tatsachen- oder Rechtsfragen betreffen (§ 2 KapMuG). Das Prozessgericht entscheidet regelmäßig innerhalb von sechs Monaten über die Zulässigkeit des Antrags (§ 3 Abs. 1-3 KapMuG). Ist der Antrag zulässig, macht ihn das Prozessgericht im Klageregister bekannt (§ 3 Abs. 2 KapMuG), der Ausgangsrechtsstreit wird unterbrochen (§ 5 KapMuG). Sind innerhalb von sechs Monaten mindestens neun weitere gleichgerichtete Musterverfahrensanträge gestellt worden, erlässt das mit dem ersten Antrag befasste Prozessgericht einen bindenden Vorlagebeschluss an das OLG (§ 6 KapMuG). Nach dessen Bekanntmachung sind alle Einzelrechtsstreite, deren Entscheidung von den Feststellungszielen abhängt, von Amts wegen auszusetzen (§ 8 Abs. 1 KapMuG). Aus den Klägern aller ausgesetzten Verfahren wählt das OLG einen Musterkläger aus (§ 9 Abs. 2 KapMuG). Nach Bekanntmachung der Parteien und des Aktenzeichens durch das OLG (§ 10 Abs. 1 KapMuG) beginnt das eigentliche Musterverfahren. Wer bis zu diesem Zeitpunkt keine Klage erhoben hat, kann einen Anspruch gegen die Musterbeklagten binnen sechs Monaten ab Bekanntmachung nach § 10 Abs. 1 KapMuG beim OLG anmelden (§ 10 Abs. 2 KapMuG). Die Anmeldenden nehmen am Musterverfahren nicht teil, profitieren aber von einer Verjährungshemmung (§ 204 Abs. 1 Nr. 6a BGB). Das Musterverfahren endet entweder durch Vergleich (§§ 17-19 KapMuG) oder durch rechtskräftigen Musterentscheid. In den dann wiederaufzunehmenden Einzelprozessen sind die Gerichte an die Entscheidung über die Feststellungsziele im Musterentscheid gebunden (§ 22 KapMuG).

Wie man leicht sieht, kann sich jeder der hintereinandergeschalteten Verfahrensschritte als „Flaschenhals“ erweisen. Eine Verzögerung wirkt sich über das gesamte Musterverfahren und bis in die wiederaufzunehmenden Ausgangsprozesse aus.

III. Zwei Konzepte der „Abhängigkeit“

1. Überblick

Nach allseits anerkannter Rechtsprechung des BGH kommt eine Aussetzung gem. § 8 KapMuG nicht in Betracht, wenn die Klage entscheidungsreif ist, d.h. wenn feststeht, dass der Klage stattzugeben oder dass sie ...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 20.02.2024 19:18
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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