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Aktuell in der ZIP

Nochmals: Kein Nachrang kapitalmarktrechtlicher Schadensersatzansprüche in der Insolvenz des Emittenten (Bitter/Jochum, ZIP 2023, 277)

In Anknüpfung an ihre Publikation aus ZIP 2021, 653 nehmen die Verfasser kritisch zum Urteil des LG München I v. 23.11.2022 – 29 O 7754/21, ZIP 2022, 2505, Stellung, das im Fall „Wirecard“ die Anmeldung kapitalmarktrechtlicher Schadensersatzansprüche der Anleger zur Insolvenztabelle im Rang des § 38 InsO abgelehnt hat. Sie zeigen auf, dass die aktuelle Entscheidung des LG München I mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht vereinbar ist, sie den Gehalt des § 199 Satz 2 InsO missinterpretiert und die europarechtliche Dimension unterbelichtet.

I. Einführung
II. Das Urteil des LG München I vom 23.11.2022
III. Mangelhafte Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung

1. Abweichung des LG München I von der Rechtsprechung des II. und IX. Zivilsenats des BGH
a) LG München I: Festhalten des Anlegers auch an einer täuschungsbedingten Investitionsentscheidung
b) BGH: Kein Nachrang bei täuschungsbedingter Investitionsentscheidung
aa) Nichtannahmebeschluss des II. Zivilsenats vom 29.5.2006
bb) Nichtannahmebeschluss des IX. Zivilsenats vom 19.5.2022
cc) Zusammenfassende Erkenntnisse der BGH-Rechtsprechung
dd) Übertragbarkeit der BGH-Rechtsprechung zum Hybridkapital auf den Aktienerwerb
2. Abweichung des LG München I von der Rechtsprechung des RG und des OGH Wien
a) Gleichbehandlung von werbender und insolventer Gesellschaft in der Rechtsprechung des RG
b) Fehlinterpretation des § 199 Satz 2 InsO durch das LG München I
aa) § 199 Satz 2 InsO als Konsequenz einer freiwilligen Investition in Eigenkapital
bb) Keine relevante Änderung der Rechtslage mit Einführung der InsO
cc) Nachrang der Anleger nur de lege ferenda
IV. Unvereinbarkeit des LG-Urteils mit dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz
1. Zutreffend unterstellte Stoßrichtung des Unionsrechts
2. Überzeugende Anknüpfung an den Effektivitätsgrundsatz
3. Fehlerhafte Verengung des LG München I auf die Abschreckungswirkung
a) Kompensationswirkung als weitere Aufgabe der Kapitalmarktinformationshaftung
b) Verwirklichung der kompensierenden Wirkung allein im Rang des § 38 InsO
c) Kompensationswirkung trotz Beschränkung der Anleger auf die Insolvenzquote
V. Zusammenfassung


I. Einführung

Der Fall „Wirecard“ hat in der deutschen Gerichtspraxis erstmals die in Österreich bereits höchstrichterlich entschiedene Frage aufgeworfen, ob kapitalmarktrechtliche Schadensersatzansprüche der Anleger in der Insolvenz des Emittenten einem Nachrang unterliegen oder die Anleger mit allen anderen Gläubigerforderungen (insbesondere der Banken und Anleihegläubiger) an der Verteilung der Insolvenzmasse teilnehmen. Von vier für diesen Fall erstellten Rechtsgutachten haben sich jene von Thole und Gehrlein für einen Nachrang der Anlegeransprüche ausgesprochen, während die Verfasser ebenso wie Brinkmann / Richter dafür keine Rechtsgrundlage zu erkennen vermochten. Das sonstige Schrifttum hat sich seit dem Fall „Wirecard“ ganz überwiegend der zuletzt genannten, schon früher klar dominierenden Position angeschlossen.

Mit dem Urteil des LG München I vom 23.11.2022 ist nun erstinstanzlich gegen die h.M. im Sinne eines Nachrangs der Anlegeransprüche entschieden. Es steht jedoch zu erwarten, dass der Streit über das OLG München zum BGH und eventuell sogar zum EuGH getragen wird. Bliebe es nämlich in der deutschen Rechtsprechung bei einer Einordnung der Schadensersatzansprüche als nachrangig, müsste ggf. zusätzlich geklärt werden, ob eine solche nationale Rechtsposition mit dem europäischen Recht vereinbar ist.

Die beiden denkbaren Grundpositionen zur Frage des Nachrangs sind rasch erzählt: Die jetzt vom LG München I vertretene Minderansicht, kapitalmarktrechtliche Schadensersatzansprüche der Anleger seien im (letzten) Rang des § 199 Satz 2 InsO einzuordnen, ist in dieser Zeitschrift von Thole entwickelt und anschließend insbesondere von Gehrlein und Madaus unterstützt worden. Sie fußt auf der Idee, jene Anleger hätten sich als Aktionäre an der Gesellschaft (Wirecard) beteiligen wollen und deshalb teilten ihre Ansprüche auf Schadensersatz das gleiche insolvenzrechtliche Schicksal wie die Einlage eines Aktionärs, auf die in der Schlussverteilung nach § 199 Satz 2 InsO nur in dem äußerst seltenen Fall etwas auszuzahlen ist, dass sämtliche Gläubiger der Gesellschaft (die regulären i.S.d. § 38 InsO wie auch die gem. § 39 InsO nachrangigen Gläubiger) eine volle Befriedigung aus der Insolvenzmasse erhalten haben.

Die u.a. von den Verfassern , aber etwa auch von Brinkmann / Richter, Becker und zahlreichen weiteren Literaturstimmen vertretene Gegenansicht geht von dem in § 1 InsO verankerten insolvenzrechtlichen Grundsatz aus, dass sämtliche Gläubigerrechte nach § 38 InsO im Grundsatz gleichberechtigt an der Verteilung der Insolvenzmasse teilnehmen. Kapitalmarktrechtliche Schadensersatzansprüche seien insoweit mit allen anderen Gläubigeransprüchen gleich zu stellen, weil den Anlegern damit gerade nicht i.S.v. § 57 AktG gesellschaftsrechtlich unzulässig die Einlage zurückgezahlt werde, sondern sich die Anleger ganz im Gegenteil darauf stützen, sie hätten sich bei zutreffender Information des Kapitalmarktes durch den Emittenten (Wirecard) nicht als Aktionäre an der Gesellschaft beteiligt.

II. Das Urteil des LG München I vom 23.11.2022
In diesem Grundlagenstreit hat sich das LG München I der erstgenannten Position angeschlossen und sich damit insbesondere eine umfangreiche Beweisaufnahme über den Grund und die Höhe der Schadensersatzansprüche erspart.

Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die insolvenzrechtliche Unterscheidung zwischen mitgliedschaftlichen Rechten der Gesellschafter, die gem. § 199 Satz 2 InsO in der Verteilungsfolge im letzten Rang zu bedienen sind und Drittgläubigerrechten im regulären Rang des § 38 InsO. Kapitalmarktrechtliche Schadensersatzansprüche seien dabei nicht als Drittgläubigerrechte einzuordnen. Vielmehr sei die erfolgte Übernahme einer Aktionärsstellung auch dann beachtlich, wenn die Investitionsentscheidung täuschungsbedingt erfolgte. Es sei nämlich schon nicht ersichtlich, auf welcher Grundlage eine Außerachtlassung der Gesellschafterstellung zu erfolgen habe. Die Anleger machten Ansprüche geltend, die auf ihrer Aktionärsstellung beruhten, zumal ein Schadensersatzanspruch aus kapitalmarktrechtlicher Informationshaftung ohne zumindest zeitweiliges Halten des Finanzinstruments nicht vorstellbar sei.

Dem von der BGH-Rechtsprechung insbesondere im Fall EM.TV anerkannten Vorrang der kapitalmarktrechtlichen Informationshaftung vor dem aktienrechtlichen Kapitalschutz misst das LG München I dabei keine Bedeutung zu, weil er nur für die werbende Gesellschaft gelte, nicht aber im Insolvenzfall. Mit dürren Worten wischt das LG München I auch eine Relevanz des von den Verfassern in dieser Zeitschrift angeführten Hinweisbeschlusses des II. Zivilsenats vom 29.5.2006 vom Tisch, der übrigens jüngst vom IX. Zivilsenat vollinhaltlich bestätigt wurde. Der II. Zivilsenat habe zwar entschieden, dass sich eine vertragliche Nachrangklausel in Genussrechtsbedingungen nicht auf Schadensersatzansprüche beziehe, mit denen die Anleger geltend machen, täuschungsbedingt zur Übernahme der Anlage bewogen worden zu sein. Da es insoweit jedoch um eine Fremdkapitalinvestition gegangen sei, folge daraus nichts für die im Fall Wirecard streitgegenständliche Aktionärsbeteiligung.

Entscheidend ist für das LG München I die von den Anlegern getroffene Entscheidung, in Aktien investieren zu wollen; diese Investitionsentscheidung bleibe auch dann maßgeblich, wenn...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 15.02.2023 10:16
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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